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Richard Wagners „Parsifal'
Im zweiten Aufzug erscheint echt dramatisch das Zauberschloß
Rlingsors, der Gralsburg gegenübergestellt, eine ganz andere Welt,
das Reich des Bösen. Von wütendem Haß erfüllt, hat Rlingsor,
der des Grales unwürdig und durch Selbstverstümmelung geschän¬
det ist, der ganzen Ritterschaft Rache und Verderben geschworen.
Seine zauberischen „Blumenmädchen" Haben schon viele Opfer der Sinnen¬
lust verlockt; um aber den „reinen Toren" zu Lall zu bringen, muß er
stärkeren Reiz wirken lassen. Rundry, das dämonische Weib, dem Am-
fortas erlag, wird von Rlingsor berufen, ihm auch den pctrfifd zu ver¬
führen. Seit sie in fluchwürdiger Riitleidlosigkeit den kreuztragenden
Heiland verlacht hat, ist sie zu unseligem Zwiespalt verdammt: bald dient
sie, demütigend büßend dem Gral, bald ist sie Rlingsors brutaler Ge¬
walt unterworfen. Nun erscheint sie in berückender Gestalt dem jungen
Melden, der sich leicht der Blumenmädchen erwehrt hat, und ruft ihn
bei seinem Namen. Wagner schreibt „parsisal" im Anschluß an die
(philologisch unhaltbare) Deutung aus dem Arabischen: Fal parsi =
der törichte Reine; parsisal = der reine Tor. Und mit teuflischer List saßt
sie ihn da, wo seine Seele am tiefsten zu treffen ist. Sie erzählt ihm vom
Tode seiner Mutter und bringt ihm als deren letzten Segensgruß den ersten
Liebeskuß. Aber wie sie ihre brennenden Lippen inbrünstig auf die seinen
heftet, schreit er auf: „Amfortas! Die Wunde, sie brennt in meinem
Kerzen!" In dem Augenblick, da er selbst die Macht der Sünde an sich
erfährt, weiß er auch, warum der Gralskönig leidet; in blitzartiger Er¬
leuchtung ist der reine Tor wissend geworden durch Mitleid, d. h. durch
eigenes Miterleiden. Das ist kühn und nicht für jedermann verständlich
und begreiflich; aber es ist die Peripetie des ganzen Dramas. Der ganze
„parsisal" steht und fällt mit diesem kritischen Moment, Hier offenbart
sich die ganze Bedeutung des „Mitleids", wie Wagner es gemeint hat.
Ls befähigt den wissend gewordenen reinen Toren, nicht allein selbst
der Verführung zu widerstehen, sondern allen Verführten ein Erlöser zu
werden, wohlverstanden: allen Schuldigen, allen Sündern. Nicht etwa
zunächst einmal der Rundry allein. Da sie den gottgesandten Melden
erkennt, möchte sie es erzwingen, daß er ihr Heiland werde; ergreifend
schildert sie ihm ihr Verbrechen, ihre Not, ihren Jammer, wie sie tränen¬
los irrt durch die Räume und durch die Zeiten, wie sie nicht büßen, Sühne
und Frieden nicht erlangen kann. Aber e.r darf keiner egoistischen Re¬
gung folgen und sei sie noch so dringlich ; seine Sendung ist eine heilige
und umfassende. Rasch ist der heilige Speer von Rlingsor zurückgewonnen,
dieser selbst mit seinem Zauberschloß vernichtet; dann wendet sich parsisal
dem Gral zu. Aber es dauert lange, bis er ihn erreicht. „Der Irrnis