Contents: Beschreibende und lehrende Prosa (Teil 3)

150 
I. Beschreibende Prosa: Litteraturgeschichte. 
finden kann. Der Minnegesang dagegen hat einen ganz andern Cha¬ 
rakter. Da erscheint die Minne als die sehnende und hoffende Liebe, die 
still für sich blüht und treu, unverbrüchlich treu ist, weil sie gar nicht 
anders kann; da kommt eine süße Milde und Weichheit, eine Blödigkeit 
und Zurückhaltung zu Tage, wie sie nur der Jugend und der weiblichen 
Natur eigen ist. Und das eben macht noch heute diese Minnepoesie so 
überaus liebenswürdig und anziehend. 
Das hervorspringendste charakteristische Merkmal der deutschen Minne¬ 
lieder ist ihre Jugendlichkeit. Die ganze halbdunkle Gefühlswelt, die 
ganze Herzensgeschichte der ersten Jünglingszeit mit all den schönen Zügen 
von Unschuld, von süßer Befangenheit, Sehnsucht und verborgener Innig¬ 
keit tritt uns hier entgegen und wird in tausend und aber tausend Va¬ 
riationen dargestellt. 
Ist es schon ein Beweis von der Schüchternheit und Zurückhaltung 
dieser Poesie, daß keiner der Minnesänger je den Namen seiner Geliebten 
nennt, weil die Nennung desselben für anstandswidrig gehalten wurde, 
so beweisen dies noch mehr die hervorstechenden Züge ihres Inhaltes. 
Nur von ferne schaut der Minnende der Geliebten nach, und begegnet 
das träumerische Auge ihren Blicken, so schlägt er es verschämt nieder 
und flieht vor ihr und seinen eigenen Gefühlen. Ja am liebsten gedenkt 
er ihrer heimlich. Da vergegenwärtigt er sich die Anmut ihres Wesens, 
ihre lichten Augen, ihr blondes Haar, ihren roten Mund, ihr minnigliches 
Lächeln, das ihn bis zum Tode verwundet hat, und er ersehnt nur einen 
Gruß, einen freundlichen Gruß von der Zarten, die sein Herz allein heilen 
und gesund machen kann. Und hat er die Freude dieses Grußes nicht, 
hat er sie seit langer Zeit nicht erschaut, so wandelt er hinaus auf den 
Anger, wo sie Blumen gepflückt, oder aus die Straße, die sie täglich zu 
gehen pflegt, um nur dieselbe Stätte zu betreten, wo sie geweilt, wo die 
Erinnerung an sie lebendiger wird. All' diese Orte preist er glücklich, 
weil sie der Fuß der Geliebten berührt hat, oder er wünscht, daß sie 
sprechen könnten, um von ihr zu erzählen, die ihm so viel Schmerzen und 
in den Schmerzen doch so viel Freude bringt. Erwacht dann der Mai 
mit seinem hellen Vogelschalle, grünen Wiesen und Feldern; füllt sich dev 
Wald mit jungem Laube, dann hört auch das Sehnen des Träumers 
auf, dann fliegt er zum Ringeltanze mit der Geliebten, oder er macht in 
Gesellschaft eine Brunnenfahrt zum Walde, wo schöne Gezelte bei frischen 
Quellen aufgeschlagen werden, und er mit der Holden Arm in Arm auf 
und ab wandelt, um schweigend mehr zu sagen als mit Worten. 
So zeigt sich hier überall die stumme zurückhaltende Liebe der ersten 
Jugendzeit, die zugleich im innigen sympathetischen Zusammenhange mit 
der Natur steht. Wie sie mit den lichten Blumen auf dem Anger und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.