56 
Schatze aus, denn das Geben war ihre einzige Freude. Kein 
Wunder, daß, von dem Rufe ihrer Freigebigkeit angezogen, mancher 
Necke, den man noch nicht zu Worms gesehen hatte, in das Land 
kam und sich der Königin zu Dienst verpflichtete. Das konnte 
Hagen nur ungern sehen, und mißmutig sprach er zu Günther: 
„Lassen wir Kriemhild noch eine Weile so fortfahren, so wird sie 
sich so viele Helden zu Dienst verpflichten, daß uns einst unsere 
Nachsicht reuen wird, weil wir den Schaden davon haben werden." 
Günther sprach: „Das Gold gehört ihr, und ich habe kein Recht, 
ihr vorzuschreiben, was sie damit thun soll. Soll ich sie mir schon 
wieder zur Feindin machen, nachdem ich kaum mit vieler Mühe 
ihre Verzeihung gewonnen habe?" Hagen entgegnete: „Ein kluger 
Mann läßt einem Weibe nicht die Verwaltung so großen Schatzes. 
Zu spät werdet ihr einsehen, daß ich recht habe, und dann werdet 
ihr bereuen, daß ihr mir nicht geglaubt habt." Der König aber 
sprach: „Ich habe ihr einen Eid geschworen, daß ich ihr nimmer 
wieder Leid zufügen wolle. Den will ich halten. Zudem ist sie 
ja auch meine Schwester." Hagen, zu allem bereit, erwiderte: 
„So laßt nur mich den Schuldigen sein." 
Bald führte Hagen auch aus, was er sich jetzt vorgenommen 
hatte, trotz des Königs Abmahnen. Er verschaffte sich die Schlüssel 
zum Schatze und damit die Gewalt über den Schatz selbst. Als 
Gernot diese neue Ungerechtigkeit, die man an seiner Schwester be¬ 
gangen, erfuhr, zürnte er sehr, und der junge Giselher sprach: 
„Hagen hat unserer Schwester schon so vieles Leides angethan, daß 
wir dem wohl endlich einmal Einhalt thun müssen. Wäre er nicht 
mein Vetter, — wahrhaftig, es ginge ihm an das Leben." Gernot 
aber meinte, es wäre am besten, wenn der ganze Schatz in die 
Tiefe des Rheins versenkt würde, so gehörte er doch niemand mehr 
an, und man hätte endlich Ruhe. 
Kriemhild weinte von neuem über das, was man ihr gethan 
hatte. In ihrer Rot wußte sie sich an keinen andern, als an 
ihren lieben Bruder Giselher, der immer so freundlich gegen sie 
war, zu wenden, und zu ihm sprach sie: „Viel lieber Bruder, sei 
du mein Beschützer; ich weiß sonst nicht, an wen ich mich wenden 
soll." Dieser antwortete ihr: „Gern will ich dein Beschützer sein; 
jetzt aber muß ich fort, den König auf einer Kriegsfahrt zu be¬ 
gleiten." 
Der König und seine Verwandten nebst ihren besten Freunden 
machten sich auf die Kriegsfahrt; nur Hagen blieb um des Hasses 
willen, den er gegen die Königin Kriemhild trug, zurück. Ehe die 
Könige zurückkehrten, ließ er den ganzen Schatz in den Rhein ver¬ 
senken. Als die Fürsten aber wieder kamen, begann Kriemhild 
ihnen ihr neues Leid zu klagen. Da wurden die Fürsten zornig
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.