Ein Tag auf dem Marschhofe.
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Varen vordem so selten als jetat. Die Bauern vor hundert Jahren
haben ihre Pferde obensowenig von städtischen dolmiedon be⸗
schlagen, ihre Wagen von stãdtischen Wagenbauern bauen, ihre
Häuser von städtisohen Meisstern immern lassen als die heutigen.
Im Gegenteil haben sie damals eine Menge derartiger Geschäfto
selber besorgt, die sie heute in der dtadt besorgen lassen, und
man kann in diesem Sinne sagen: es gibt jetzt mehr reine Bauern
als früher. Es fiel aber auen damals niemand ein, den Schmied,
Schuster und Schneider auf dom cehten Bauerndorfe für einen
Handwerker zu nehmen, er ist und bieibt em gewerbetreibender
Bauer, dessen Hauptgegchaft in der Regel der Ackerbau, dessen
Nebengeschäft das Handwerk ist, und der sich in Sitte und Le-
bensart, ja sogar auch im Gegchaâftsbotrieb vom stãädtischen Hand-
werker unterscheidet.
Abseits der groben Verkehrswege werden die Dörfer und
Landstãdte immer dorfmãbiger bleiben; da wohnt die beharrende
Bevölkerung, während die groben Stãdte, in riesigem Mabstabe
anwachsend, immer grobstãdtischer sieh gestalten. Dadureh mub
sich ein schroffer Gegensatz von Stad una Landgemeinden her-
ausbilden, wie man ihn vordem gar nicht gekannt hat.
Aus: Riehl (Land und Leute. Stuttgart, Ootta).
157. Ein Tag auf dem Marschhofe.
Möge mich der geneigte Leser nunmehr auf einen großen Marsch—
hof echter Art, wie er mir im Geiste vorschwebt, begleiten, um ein
anschauliches Bild vom Leben und Treiben desselben zu gewinnen.
Wählen wir zu unserem Besuche die Zeit gegen Ostern, wo noch
Winter- und Frühlingsarbeit zusammenfallen. — Es ist frühmorgens.
Die alte Hausuhr im Vorplatz, deren hohes, schnörkelreiches Holz-
gehäuse im Laufe der Jahre fast ganz schwarzbraun geworden ist
und die dem Hause schon manche frohe und traurige Stunde ge—
meldet hat, schlägt eben fünf, aber seit länger als einer Stunde herrscht
schon überall däs rührigste Treiben. Auf der Diele dreschen eben
vier Tagelöhner das letzle Korn, eine Magd schlägt die Garben um
und schwingt dann und wann auch wohl selbst rüstig den Flegel.
Die andere Magd hat eben gemolken und trägt die Milch in die
Küche, wo die zwanzigjährige älteste Tochter des Hauses, ein umsich⸗
tiges und still emsiges Madchen, sie in Empfang nimmt und durch
ein blankes Messingfieb mit eingelegtem Tuch in flache Baljen (höl—
zerne Bütten) seihet. Auf dem Herde aber flammt schon unter dem
Kessel mit der Morgensuppe ein lustiges Feuer.
Aus dem Pferdestalle dringt Lärm, Wiehern und Schlagen der
Ackerpferde, dann lautes Schelten des Großknechts mit dem vierzehn⸗
jährigen Schwöpenjungen (wörtlich Peitschenjungen — wie die Bu—
ben, welche man auf den Marschhöfen nur zum Fahren mietet, ge—
Kälker-Rodig, Lesebuch. 4. Aufl.
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