Verhältnisse des Menschen. 38?
ruhet auf dem Grundsatz: Was du willst, das Andre
dir thun sollen, das thue du ihnen auch. Die Gerecht
tigkeit verbietet alle Kränkungen der Wohlfarth meines
Nächsten; die Menschenliebe befiehlt, die Wohlfarth
desselben nach Vermögen zu befördern. DerMenschen-
freund muß sich also immer in die Lage des Andern,
mit dem er zu thun hat, denken, und sich fragen, wa-
er selbst wohl in derselben als billig und menschlich ver¬
langen würde? und alsdann wird sein eigen Herz ihm
seine Pflicht Vorhalten. Darunter darf keincsweges
die Selbstliebe leiden', denn wenn meine eignen und deS
Nächsten Bedürfnisse gleich groß sind, und ich kann bei¬
de nicht Zugleich befriedigen, so geht die Pflicht gegen
mich selbst der Pflicht gegen den Nächsten vor. So
bald aber das Dedürsniß des Nächsten größer und drin;
gender ist, als das meinige; so erfordert die Menschen¬
liebe, daß ich ihm helft. Die Menschenliebe ist eben
so allgemein, als die Gerechtigkeit, d. i. ich muß sie
gegen Alle ohne Unterschied der Religion rc. ausüben,
und in allen Fällen, wo ich kann. Dadurch vermehre
ich, so viel an mir ist, das allgemeine Beste, und je
größer dieses wird, desto glücklicher bin ich selbst als
Theilnehmer an der Summe des Guten in der Gesell¬
schaft. Die Liebe zu Freunden und Verwandten muß
stets der Menschenliebe untergeordmt bleiben, und mit
derselben bestehen können, sonst wird jene eine tadelns-
werthe Partheilichkeit. Finde ich also einen Fremden,
der meiner Hülfe bedürftiger und würdiger ist, als mein
Verwandter, so muß ich diesen vorziehen. Es ist Ei,
genliebe, nicht Selbstliebe, wenn ich einen Andern,
der mehr Unterstützung bedarf, als ich, mir nachsetze;
cs ist Eigennutz, wenn ich einem Verwandten und
Freund bloß als solchem, und um dieser Privatverbin-
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