3. Über naive und sentimentalische Dichtung.
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höhern Begriffe (einen solchen giebt es wirklich) miteinander vergleichen
sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor
einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter, aber
auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen. Wenn man
nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige Natur gleich¬
förmig wirkte, so kann es nicht anders sein, als daß man den neueren Poeten
gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den Namen der Dichter
wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur zu dem Zöglinge
der Kunst sprechen und der einfältigen Natur nichts zu sagen haben i.
Wessen Gemüt nicht schon zubereitet ist, über die Wirklichkeit hinaus ins
Ideenreich zu gehen, für den wird der reichste Gehalt leerer Schein und
der höchste Dichterschwung Überspannung sein. Keinem Vernünftigen kann
es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgend einen Neuern
ihm an die Seite stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn
man einen Milton1 2 oder Klopstock 2 mit dem Namen eines neuern Homer
beehrt sieht. Ebensowenig aber wird irgend ein alter Dichter und am
wenigsten Homer in demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch
auszeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener,
möchte ich es ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung;
dieser ist es durch die Kunst des Unendlichen.
Und eben daraus, daß die Stärke des alten Künstlers (denn was
hier von dem Dichter gesagt worden, kann unter den Einschränkungen,
die sich von selbst ergeben, auch auf den schönen Künstler überhaupt aus¬
gedehnt werden) in der Begrenzung besteht, erklärt sich der hohe Vorzug,
den die bildende Kunst des Altertums über die der neueren Zeiten be¬
hauptet, und überhaupt das ungleiche Verhältnis des Wertes, in welchem
moderne Dichtkunst und moderne bildende Kunst zu beiden Kunstgattungen
im Altertume stehen. Ein Werk für das Auge findet nur in der Begrenzung
seine Vollkommenheit; ein Werk für die Einbildungskraft kann sie auch
1 Molière (ß 1673) als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Aus¬
spruch seiner Magd ankommen lassen, was in feinen Komödien stehen bleiben und
wegfallen sollte; auch wäre zu wünschen gewesen, daß die Meister des französischen
Kothurns mit ihren Trauerspielen zuweilen diese Probe gemacht hätten. Aber ich
wollte nicht raten, daß mit den Klopstock scheu Oden, mit den schönsten Stellen
im „Messias", im „Verlornen Paradies", in „Nathan dem Weisen" und vielen an¬
deren Stücken eine ähnliche Probe angestellt würde. Doch, was sage ich? Diese
Probe ist wirklich angestellt, und die Moliöresche Magd räsonniert ja Langes und
Breites in unseren kritischen Bibliotheken, philosophischen und litterarischen Annalen
und Reisebeschreibungen über Poesie, Kunst und dergleichen, nur, wie billig, auf
deutschem Bodeu ein wenig abgeschmackter als auf französischem, und wie es sich
für die Gesindestube der deutschen Litteratur geziemt.
2 Siehe Teil II, S. 21. 3 Siehe Teil II, S. 25.