Full text: Ausser den noch übrigen Theilen von Europa, ganz Asien, Afrika, Amerika und Südindien (Theil 9, Bd. 2)

3. Über naive und sentimentalische Dichtung. 
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höhern Begriffe (einen solchen giebt es wirklich) miteinander vergleichen 
sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor 
einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter, aber 
auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen. Wenn man 
nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige Natur gleich¬ 
förmig wirkte, so kann es nicht anders sein, als daß man den neueren Poeten 
gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den Namen der Dichter 
wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur zu dem Zöglinge 
der Kunst sprechen und der einfältigen Natur nichts zu sagen haben i. 
Wessen Gemüt nicht schon zubereitet ist, über die Wirklichkeit hinaus ins 
Ideenreich zu gehen, für den wird der reichste Gehalt leerer Schein und 
der höchste Dichterschwung Überspannung sein. Keinem Vernünftigen kann 
es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgend einen Neuern 
ihm an die Seite stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn 
man einen Milton1 2 oder Klopstock 2 mit dem Namen eines neuern Homer 
beehrt sieht. Ebensowenig aber wird irgend ein alter Dichter und am 
wenigsten Homer in demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch 
auszeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener, 
möchte ich es ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung; 
dieser ist es durch die Kunst des Unendlichen. 
Und eben daraus, daß die Stärke des alten Künstlers (denn was 
hier von dem Dichter gesagt worden, kann unter den Einschränkungen, 
die sich von selbst ergeben, auch auf den schönen Künstler überhaupt aus¬ 
gedehnt werden) in der Begrenzung besteht, erklärt sich der hohe Vorzug, 
den die bildende Kunst des Altertums über die der neueren Zeiten be¬ 
hauptet, und überhaupt das ungleiche Verhältnis des Wertes, in welchem 
moderne Dichtkunst und moderne bildende Kunst zu beiden Kunstgattungen 
im Altertume stehen. Ein Werk für das Auge findet nur in der Begrenzung 
seine Vollkommenheit; ein Werk für die Einbildungskraft kann sie auch 
1 Molière (ß 1673) als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Aus¬ 
spruch seiner Magd ankommen lassen, was in feinen Komödien stehen bleiben und 
wegfallen sollte; auch wäre zu wünschen gewesen, daß die Meister des französischen 
Kothurns mit ihren Trauerspielen zuweilen diese Probe gemacht hätten. Aber ich 
wollte nicht raten, daß mit den Klopstock scheu Oden, mit den schönsten Stellen 
im „Messias", im „Verlornen Paradies", in „Nathan dem Weisen" und vielen an¬ 
deren Stücken eine ähnliche Probe angestellt würde. Doch, was sage ich? Diese 
Probe ist wirklich angestellt, und die Moliöresche Magd räsonniert ja Langes und 
Breites in unseren kritischen Bibliotheken, philosophischen und litterarischen Annalen 
und Reisebeschreibungen über Poesie, Kunst und dergleichen, nur, wie billig, auf 
deutschem Bodeu ein wenig abgeschmackter als auf französischem, und wie es sich 
für die Gesindestube der deutschen Litteratur geziemt. 
2 Siehe Teil II, S. 21. 3 Siehe Teil II, S. 25.
	        
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