Object: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminarien

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ihre Verdienste an, sondern ließ willig ihnen zuschreiben, was sein Werk war, in der 
seligen Beruhigung, seine Pflicht erfüllt zu haben, auch wenn die Welt es nicht wußte. 
Wohl wichen hier und da seine Anschauungen und Meinungen von denen seiner 
Berater ab, aber willig überwand er die eigenen Wünsche und Gewissensbedenken, 
wenn ihm die Notwendigkeit klar ward. Hatte er sich entschieden, und mochte die 
Entscheidung ihm noch so schwer fallen, dann war er aber auch entschlossen im Handeln 
und Durchführen. Als im Jahre 1866 der Erzbischof von Köln, Melchers, dem 
Könige in einem Briese von dem Kriege abriet, der nur der Revolution jenseits der 
Alpen in die Hände arbeiten werde, und auf sonstige Bedenken gegen denselben hin¬ 
wies, setzte der König ihm die politische Sachlage in einer Antwort auseinander und 
zeigte ihm, wie er alle Mittel versucht habe, um einen Krieg zu vermeiden. „Ich habe 
mit meinem Gott im Gebet gerungen, um Seinen Willen zu erkennen, und nur so 
habe ich Schritt vor Schritt, Preußens Ehre im Auge haltend, nach meinem Gewissen 
gehandelt." Als dann der Krieg zur Notwendigkeit geworden war, rief er aus: 
„Ich weiß, sie sind alle gegen mich! Aber ich werde selbst an der Svitze meiner 
Armee den Degen ziehen und lieber untergehen, als daß Preußen diesmal nachgibt." 
Wenn Wilhelm I. die verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte der Krone mit 
aller Entschiedenheit wahrte, so tat er dies nicht um seiner selbst willen, sondern des 
Wohles des Volkes wegen, in dessen Interesse er sich selbst im Greisenalter keine 
Bequemlichkeit, keine Muße gönnte. Allezeit war er im Dienste des Staates tätig; 
denn wie Gottvertrauen und Frömmigkeit die Quellen waren, aus deren unversieg¬ 
barem Wasser er seine Seele erquickte, so gab das Pflichtbewußtsein seinem alternden ' 
Körper stets wieder neue Spannkraft. Sein ganzes Leben war eine Betätigung des 
Gelübdes des Knaben: „Jeden Tag will ich mit dem Andenken an Gott und meine 
Pflicht beginnen und jeden Abend mich über die Anwendung des verflossenen Tages 
prüfen." Immer im Dienste der Pflicht, kannte Kaiser Wilhelm I. kein Stillsitzen 
ohne Beschäftigung, kein Aufsuchen einer Bequemlichkeit, keine Schonung seiner eigenen 
Person. 
Seinen Anlagen und seinen Neigungen nach war Kaiser Wilhelm Soldat vorn 
Scheitel bis zur Sohle. Sein Werk ist die siegreiche Armee Preußens; ihr galt sein 
Sinnen und Denken, sein Sorgen und sein Schaffen von der frühesten Zeit seines 
Jünglingsalters an. In ihren Dienst hatte er lange Jahrzehnte seine Feder gestellt 
gehabt, deren Erzeugnisse den Stempel seiner ganzen Persönlichkeit tragen: klar, präzis, 
ohne Phrase. Indessen so sehr sein Herz auch an der Armee hing, in deren Dienst 
ihm auch das Kleinste nicht unwesentlich erschien, so sah er in ihr doch immer nur 
das Werkzeug, um den Gedanken seines Lebens zur Tat werden zu lassen, durch 
Preußen Deutschland zu einigen. Schwer entschloß er sich, die Entscheidung für 
einen Krieg zu treffen, dessen Schrecken und Greuel er als Jüngling bereits kennen 
gelernt hatte. Wenn dann der Kampf begonnen hatte, sah man den Siebzigjährigen 
in jugendlichem Feuer in das Toben desselben sprengen, der Todesgefahr nicht 
achtend, seinen Kriegern ein leuchtendes Vorbild fürstlichen Mutes und unentwegter 
Aufopferungsfähigkeit. Das deutsche Volk in Waffen wußte es, daß sein Kaiser alle¬ 
zeit mit ihm gemeinsam die Gefahren des Schlachtfeldes teilen werde. Bis in die 
letzten Tage seines Lebens galt der Stärkung der Wehrkraft und der Ausbildung 
der Armee seine fürnehmste Sorge; dabei aber widmete er den anderen Seiten des 
staatlichen Lebens nicht mindere Aufmerksamkeit. Die Tätigkeit des Landmanns wie 
des Handwerkers, des Kaufmanns wie des Industriellen fand gleiche Förderung durch 
sein königliches Wirken; mit dem ihm eigenen klaren Blicke lebte er sich auf den 
Gebieten von Kunst und Wissenschaft ein, die seiner früheren Tätigkeit ferner als 
manches andere gelegen hatten. Künstler wie Gelehrte Deutschlands verdanken ihm 
große Förderung in ihrem Schaffen. Mit hohem Jntereffe verfolgte er die Aus¬ 
grabungen in Olympia, ließ er sich, als die Tonfiguren in Tanagra (Böoticn) 
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