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Dieses im ganzen fruchtbare und schöne Land mit zwei großen
Meeren, dem atlantischen und dem mittelländischen und dem unruhigen,
sturmvollen und kriegvollen Kanal, den so viele Siege und Niederlagen
der Römer, Sachsen, Flandrer, Holländer, Franzosen und Engländer
seit anderthalb tausend Jahren blutig gefärbt haben, und mit vortreff¬
lichen Häfen an seinen Küsten, hat freilich nicht die hochgestaltige und
vielgestaltige Mannigfaltigkeit Spaniens und Italiens, ja nicht ein¬
mal die Mannigfaltigkeit Deutschlands, aber es ist reich an Wein, Ge¬
treide, Obstbau, Viehzucht, und zieht im Süden schon den Oelbaum,
und einzelne Südfrüchte und den Maulbeerbaum mit dem Seidenwurm,
ist auch durch Handel, Schiffahrt, Gewerbfleiß und Kolonien ein
gesegnetes und mächtiges Reich.
Dieses schöne Land hieß ältestens Gallien und war in den Zeiten
der Griechen und Römer das Hauptland des großen europäischen Süd¬
westvolkes der Kelten oder Galen. Obgleich wir bei den bruchstückigen
Nachrichten die einzelnen Bestandtheile des großen Volkes, wie sie vier-,
fünfhundert, ja nur hundert Jahre vor unserer Zeitrechnung bestanden,
nicht genauer kennen, wissen wir doch, daß alle Donaulande von Pan¬
nonien bis zur Quelle der Donau und die Länge und der Bogen der
Karpathen, wo dieser unter dem Namen Riesengebirge sich tiefer in
Deutschland hinein beugt, daß die Alpen zu beiden Seiten und Ober¬
italien theils von ihnen besetzt, theils von ihnen durchsprengt waren;
daß ihre Stammgenossen, zum Theil mit Andersartigem gemischt, in
Hispanien, Britannien und Irland saßen. In den Tagen. wo das
Gallien, von dessen Gebiet und Urenkeln wir jetzt handeln, durch den
römischen Cäsarsdegen der Geschichte ganz geöffnet ward, war die
gallische Macht und Größe, welche 350 Jahre früher Rom in seiner
ersten Entwicklung beinahe vernichtet hätte, von ihrer weiland Fürch-
terlichkeit tief herabgesunken und ward von Cäsar in sieben Feldzügen
in eine römische Provinz verwandelt, nachdem die Römer sich der Süd¬
küsten mit den Hauptstädten Massilia und Narbona und der von den
Allobrogen, welche sie durch ihre gewöhnlichen Künste aus sogenannten
Freunden und Bundesgenossen allmählich in Unterworfene verwandelten,
bewohnten Alpenpässe schon früher bemächtigt hatten. Doch war nur
die größere Hälfte dieses gallischen Landes von echten Galliern bewohnt;
im Süden um die Garonne bis an die Pyrenäen saßen die Aquitanier
oder Basken, und der Norden war theils halb, theils ganz germanisch.
Die Germanen, welche ältestens vor Sagen und Geschichten ihren Ab¬
zug aus der asiatischen Heimat, wahrscheinlich vom schwarzen Meer
auf der leichtesten Straße längs den Wassern und leichten Höhen des
Dneprs zur Newa und Düna hinauf immer vordringend gemacht und
zuerst die Küstenlande und Halbinseln und Inseln der Ostsee besetzt
hatten, waren in den letzten Jahrhunderten laut Cäsars Berichten von
da immer gewaltiger weiter gegen Südwesten gedrungen und hatten
die Gallier weiter nach Süden hinabgedrängt. Vielleicht waren die
Stöße, welche die Gallier vier Jahrhunderte vor Christo auf die Römer,
später auf die Griechen bis zum heiligen Delphi hinunter machten,
solche, die wieder durch Stöße und Drucke, welche die Germanen vom
Norden her mehr und mehr auf sie machten, veranlaßt wurden. Wie
dem sei, der nördliche Theil des Landes, welches die Römer mit dem
gemeinsamen Namen Gallien nannten, alles, was zwischen den nörd-
lrchen Ausläufern des Jura von der Rheinbiegung des jetzigen Basels
an, den Ardennen und den von der Somme durchflossenen Höhen und
Ebenen lag und nordöstlich zwischen diesen Bergen und dem Rhein-
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