Ueberschau und Vorblick. 
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und wurde in gewissen Kreisen als Prophet und Heiliger verehrt; aber die Mittel, wo¬ 
durch er zu diesem Ruhme gelangte, waren oft irdisch und kleinlich; eitle Selbstgefäl- 
ligkeit, weltlicher Ehrgeiz und geistlicher Hochmuth lagen im Grunde seiner Seele unter 
der Hülle äußerer Demuth verborgen, und aus seinem geheimen Tagebuche eines 
Beobachters seiner selbst erkennt man die bewußte Absichtlichkeit, mit der er nach 
dem Heiligenschein des Propheten strebte. Darum ward er auch häufig der Gegenstand 
satirischer und humoristischer Angriffe. Sein Lagebuch wurde von Wieland (im Endy- 
mion) verspottet; seine Proselytenmacherei, die ihn verleitete, den jüdischen Philosophen 
Moses Mendelssohn zum Uebcrtritt in das Christenthum aufzufordern, wurde von dem 
witzigen Göttinger Mathematiker und Physiker Lichtenberg (im Timorus) gegeißelt, 
und als er sein berühmtestes Werk über Physiognomik (Anweisung, den Charakter der 1752-99. 
Menschen aus der Bildung des Kopfs und Gesichts zu erkennen) unter dem Titel: 
„Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenke nnt- 
niß und der Menschenliebe" in vier prachtvoll ausgestatteten, mit Kupfern ver¬ 
sehenen Quartbänden herausgab, so verspottete Lichtenberg den Orakelton und die hoch¬ 
trabende bombastische Sprache Lavaters dadurch, daß er dessen schwülstige, feierliche 
Aussprüche und physiognomische Urtheile an Hund- und Sauschwänzen persiflirte. — Der 
verwachsene Lichtenberg konnte freilich an dem Grundsatz, daß in einem schönen Körper 
auch eine schöne Seele wohne, kein solches Gefallen finden, wie der schöngebildete Lavater. 
Ueberhaupt war Lichtenberg körperlich und geistig der Gegensatz zu Lavater; jener war 
eben so ungläubig und sreidenkcnd wie dieser gläubig und christlich; bei jenem beruhte 
Alles auf Natur und Anlage, bei diesem war das Meiste angebildet; Lavaters Wesen war 
voll Feierlichkeit, Würde und Salbung, Lichtenbergs Charakter war aus Muthwille und 
Leichtsinn aufgebaut. Der Göttinger Mathematiker wäre der geeignetste Mann gewesen, 
den humoristischen Roman der Engländer nach Deutschland zu verpflanzen, da er selbst 
alle Launen, Stimmungen und Widersprüche eines Humoristen in seinem Charakter ver¬ 
einigte und durch seine geistreichen Erklärungen der Hogarth'schen Kupfer¬ 
stiche seinen tiefen Blick in das Seelenleben der Menschen beurkundete; allein seine son¬ 
derbare Natur ließ ihn bei keiner größern Arbeit ausdauern; humoristische und satirische 
Abhandlungen, fliegende Blätter und Fragmente, in denen er alle verkehrten Richtungen, 
die überspannten Kraftgenies, Lavaters Prophetenthum und Philadelphia's prahlerische 
Taschenspielerkunst verspottete, waren neben einigen wissenschaftlichen Schriften die einzige 
Frucht seines hohen Talents und seines klaren, selbstbewußten Geistes. 
e) Jung Stilling und Herder. Bon gleicher Gesinnung und Richtung wie 
Lavater, aber mit mehr Natürlichkeit und einem reichern Gemüthsleben begabt, war Joh. Jung 
Heinr. Jung gen. Stilling, aus der Gegend von Siegen. Aus seinem von ihm selbst ^0 — 
verfaßten gemüthlichcn Jugendleben ersieht man, wie der sinnige, phantasievolleKnabe 1817. 
allmählich zu der elegischen, sentimentalen Weltanschauung und zu der religiösen Gläu¬ 
bigkeit gelangte. Die Einwirkung einer frommen abergläubigen Umgebung, die Entfer¬ 
nung von Welt und Menschen, das süße Schwärmen in einsamer Natur, der Druck der 
Armuch, die ihn nöthigte, zuerst das geringe Gewerbe eines Schneiders zu ergreifen und 
in seinem Innern Trost gegen die Mißachtung der Welt und die mannigfachen Entbeh¬ 
rungen zu suchen, erzeugten in seinem Gemüthe einen außerordentlichen Grad von Em¬ 
pfindbarkeit und Weiche, die, von der rauhen Außenwelt vielfach verletzt, ihn zur Selbst¬ 
beschauung, zu einem Gefühls- und Religionsleben führten. Die merkwürdigen Schick¬ 
sale seines Lebens, die ihn allmählich vom Schneidcrgewerbe zum Schulmeister, dann (nach 
zurückgelegten Studien in Straßburg, wo er mit Goethe und Herder in Verbindung kam) 
zum Augenarzt und endlich zum Professor der Staatswirthschaft in Marburg und Heidel¬ 
berg emporgehoben, und die Hülfe, die ihm in jeder Noch zu Theil ward, befestigten in 
hm den Glauben, daß er unter Gottes besonderem Schutze stehe, und daß alle Haare
	        
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