Full text: Leitfaden der Weltgeschichte für die höheren Classen evangelischer Gymnasien und Realschulen, sowie zum Privatgebrauch für Lehrer und für Gebildete überhaupt

268 XVII. §. 2. Herrlicher Beruf und Natur des Germanenvolks. 
und überwunden, und sollte ein solcher Kampf selbst Freiheit, Ge¬ 
sundheit und Leben kosten. Denn das ist der Ruhm des edlen Ger¬ 
manen, daß sein persönlicher Wille in dem, was er für recht und 
gut erkannt hat, durch nichts, weder durch Schmerzen noch durch 
Schmach und Tod überwunden werden kann. Ein solches Volk hatte 
sich der Herr herangezogen durch die Wunderwege seiner geheimniß- 
vollen Gnadenführung, auf daß es, was es jetzt in heidnischer Na¬ 
turkraft zu erringen begonnen, dereinst als geisterfülltes Gottesvolk in 
der Kraft des neuen Lebens mit Gott herrlich und siegreich vollenden 
möchte. 
Bei einem solchen ganz anders gearteten Heidenvolk bewegen na¬ 
türlich auch die religiösen Anschauungen sich in ganz anderen Kreisen, 
als bei den sämmtlichen heidnischen Kulturvölkern des Alterthums. 
Bei den Germanen finden wir nicht die starren Formen und unsittli- 
lichen Opfer und Gebräuche des orientalischen Naturdienstes, auch nicht 
die feinausgezierten kunstsinnigen Dichtungen von einer in menschlicher 
Schönheit prunkenden Götterwelt, bei der an Stelle alles sittlichen 
Ernstes und der strengen Forderungen der Pflicht lediglich das Gebot 
des Schönheitssinnes, des Ebenmaßes, des sinnlich wohlthuenden Ein¬ 
klangs getreten ist, wie bei den Griechen — sondern wir finden bei 
ihnen eine solche Ausbildung und Umformung der alten arischen Licht¬ 
religion, wie sie dem ungebrochenen, aber unter der Zucht Gottes und 
des Gewissens stehenden Heldensinn der Germanen angemessen ist, Alles 
wild, kolossal, phantastisch, abenteuerlich, märchenhaft, aber durchzogen 
von den Klängen einer tiefen göttlichen Wahrheit und voll Vorahnun¬ 
gen noch bevorstehender höherer Offenbarungen. Wie sie selber im 
unablässigen Kamps begriffen sind, so ruht auch nimmermehr der Kampf 
unter den oberen geistigen Gewalten. Da erscheint uns das ganze 
finstere Dämonengeschlecht der Dürfen oder Jötun, und ihnen gegen¬ 
über das Heer der Lichtgestalten, der Äsen, an ihrer Spitze der rastlos 
kämpfende und siegende Heldengeist Odin (Wuotan), der mit seinen 
Brüdern den finstern Jötunriesen Vrnir erschlägt und aus dessen 
Gliedern, Fleisch, Blut, Knochen, Zähnen, Hirn und Haaren die ganze 
sichtbare Welt bereitet; der die Heldenseelen unter dem Menschenge¬ 
schlecht mit seiner übermenschlichen Kraft erfüllt und endlich zu sich 
ruft. In seinem Heere kämpft sein Sohn Thor oder Donar mit 
seinem Hammer (Blitzstrahl) gegen die wilden Dämonen des kalten 
Winters, des Frostes, des ewigen Eises, des starren Gesteins, des wü¬ 
sten Schuttes, der unfruchtbaren Felsen u. s. w., und neben ihm ist 
Heimth aller geschäftig mit seinem Höfudschwert und Giallarhorn, um 
in die von den Dürfen gestörte Welt wieder Ordnung, Ebenmaß und 
Harmonie zurückzubringen. Aber einem der Dürfen, dem finstern 
Loki, ist es gelungen, sich mitten in die Götterversammlung der Äsen 
hineinzustehlen und als Vorbote des endlich auch über sie hereinbre¬ 
chenden Verderbens einen Todesschatten über die heldenmüthige Sie¬ 
gesfreudigkeit der Äsen zu werfen. Denn auch für die Äsen und nicht
	        
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