Full text: Leitfaden der Weltgeschichte für die höheren Classen evangelischer Gymnasien und Realschulen, sowie zum Privatgebrauch für Lehrer und für Gebildete überhaupt

XVm. tz. 12. Höchster Glanz und Zerfall des Khallfenretchs. Z19 
Geistlichen und Lehrer selbst unerschöpflich waren, immer neue Gründe 
zu erfinden, weshalb man dem sinnlichen Lebensgenuß auch nicht das 
Geringste abbrechen müsse. So wurde unvermerkt aus dem freien kräf¬ 
tigen Wüstensohn ein sklavischer, weichlicher Genußmensch. Hatten die 
ersten Khalifen jede Gelehrsamkeit verabscheut, und alle Bücher außer 
dem Koran verbrennen wollen, so wurden jetzt die A bassi den weit¬ 
herzige Gönner und Förderer der schönen Künste und der feinen Bil¬ 
dung. An ihrem Hofe sammelten sich nicht bloß die Sänger und 
Liederdichter, die Märchenerzähler und Schauspieler, sondern auch die 
Weisen, die Schriftsteller, die Gefchichtsforscher, die Häupter in allen 
Zweigen der Gelehrsamkeit. Ja, es geschah das Unerhörte, daß ara¬ 
bische Gelehrte den Zugang fanden zu den Schätzen der altgriechischen 
Literatur und die Schriften der großen Philosophen, namentlich des 
Aristoteles, zuerst durch arabische Uebersetzungen den christlichen 
Gelehrten des Mittelalters bekannt wurden. Freilich kamen mit der 
neuen Gelehrsamkeit auch eine Menge neuer Streitigkeiten unter den 
Mohamedanern auf. Das Glaubensbekenntniß des Jslain ist so über¬ 
aus einfach, der Lehrsätze sind so wenige, daß man es kaum für möglich 
halten sollte, darüber noch verschiedener Ansicht zu sein. Aber sie 
haben es doch fertig gebracht. Wenn auch die meisten Spaltungen 
und Secten vorzugsweise politischer Natur sind, so habeit sie doch auch 
eine Menge theologischer Streitfragen aufgebracht und in Folge dessen 
sich in solch eine Masse von Parteien und Secten zerspalten, daß selbst 
die Spaltungen unter den Protestanten Englands und Nordamerika's 
dagegen gering erscheinen. Nach dem Eingeständniß des Koran selber 
sollte es freilich nur 72 mohamedanische Secten geben. Aber wenn 
man nachzählt und auch von den unzähligen kleineren Nebensecten ganz 
absieht, so findet man noch immer weit über 200 Sectennamen, und 
ihre Zahl vermehrt sich immer noch. 
§. 12. Höchster Glanz und Zerfall des Khalifenreichs. 
Auf der höchsten Stufe äußerer Herrlichkeit finden wir das Kha- 
lifenland unter der Regierung des Abassiden Harun al Raschid 
zu Bagdad (786 — 809). Trotzdem daß die Grundlagen des stol¬ 
zen Reiches schon zu wanken begannen, daß schon hier und da der 
Abfall einzelner Länder und Statthalter offen hervortrat, war eö doch 
noch immer ein kolossales Reich, ein Nachspiel jener alten Weltreiche, 
die vormals Vorderasien, Nordafrika und Südeuropa umfaßten. 
Ja nach Osten und Nordosten griff es noch weit über die alten Gren¬ 
zen hinaus, bis über den Indus, bis fast an den Nordrand des 
Aralsees. Nur in Europa konnte es nicht recht festen Fuß fassen. 
Die einzige pyrenäische Halbinsel, die erobert war, hatte sich bereits 
losgerissen unter einem eignen Khalifen. Dagegen schien es, als 
wäre Harun al Raschid berufen, bem greuelvollen Wesen des 
byzantinischen Hofes vollends ein Ende zu machen. Ihm gelang
	        
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