XXIII. §. 14. Nngehinderte Ausbreitung des Protestantismus. 519
durchdrungen. Allgemein wurde die Messe, wurden die Reliquien, die
Rosenkränze, die Fasten und Wallfahrten verachtet. Von Ablaß und
Fegfeuer wollte Niemand mehr etwas wissen. Wer hätte noch Luft
gehabt, in ein Kloster zu treten? Mönche und Nonnen, Aebte und Bi¬
schöfe wagten es kaum, sich in ihrer geistlichen Amtstracht öffentlich
zu zeigen. Die Klöster verfielen; die geistlichen Güter kamen in die
Gewalt der Landesherren. In Deutschland fanden sich weder auf den
Universitäten noch auf den Schulen kräftige Vertreter des Katholicis-
mus. Auf allen Universitäten waren die evangelischen Lehren einge¬
drungen. Die gesummte Jugend Deutschlands saß zu den Füßen pro¬
testantischer Lehrer. Schon wollte man einen Mangel an jungen Män¬
nern bemerken, welche die Priesterweihe begehrten. Dagegen stüdirten
in Wittenberg jährlich nahe an 800 junge Leute aus allen Gegenden
des lutherischen Europa. Von dort aus wurden die übrigen Univer¬
sitäten, wurden aller Orten die Kanzeln besetzt, so wie von Genf aus
die Kanzeln Frankreichs, Schottlands und der Niederlande. Ja in
Deutschland ging man noch weiter. Die Bischöfe wurden bekanntlich
von ihren Domcapiteln erwählt. Im nördlichen Deutschland aber wa¬
ren allmälig die Domcapitel ganz und gar evangelisch geworden. Was
war natürlicher, als daß sie sich auch evangelische Bischöfe wählten.
Die Bisthümer Halberstadt, Paderborn, Minden, Verden, Lübeck, ja
die Erzbisthümer Bremen und Magdeburg, und wie viele Abteien ge-
riethen in protestantische Hände! Noch einmal schien es, wie schon unter
Hermann von Wied (S. 512), dahin kommen zu wollen, daß auch in
Köln, in Münster und Osnabrück evangelische Bischöfe den Platz be¬
haupteten, und wie hätten dann Mainz und Trier Zurückbleiben wollen?
Aber es ist nicht also geschehen. Mitten im unzweifelhaften Sieges¬
zuge wurden die Eroberungen der evangelischen Kirche gehemmt. Nicht
durch eine gewaltige Persönlichkeit, nicht durch großartige Begebenhei¬
ten und wunderbare Ereignisse, nicht durch einen plötzlichen Umschwung
— langsam, geheimnißvoll, kaum wahrnehmbar bereitet sich eine dunkle
aber unwiderstehliche Macht, die das stolz dahersegelnde königliche
Schiff der reformatorischen Christenheit wie mit tausend verborgenen
Fäden umspinnt und festlegt und hemmt und zurückzieht. Neue Kämpfe
bereiten sich vor, die Gegenreformationen beginnen, Sieg und Glück
begleitet auf's Neue die katholischen Unternehmungen, mehr als die
Hälfte des schon gewonnenen Gebiets wird den Evangelischen wieder
entrissen. Sollen wir uns darüber wundern? Es wiederholt sich hier
ja nur, was je und je das Loos der neugeschenkten oder wiedergesun-
denen Wahrheit war, daß nämlich die Mächte der Finsterniß Alles auf¬
boten, um sie zu vernichten. Wie die apostolische Christenheit alsbald
von dem Drachen angegriffen und nur durch die Allmachtshand Got¬
tes vor ihm gerettet und zu einer ruhigen Eristenz im römischen Staate
geleitet wurde, so versuchten auch jetzt die Creaturen des Drachen:
Weltmacht und Kirchenmacht, ihre Waffen gegen die gereinigte Kirche.
Aber die Weltiuacht war zertheilt und die Kirchenmacht geschwächt,
deshalb erlitt die evangelische Christenheit zwar großen Verlust und
Schaden, aber sie wurde nicht unterdrückt. Nach einem Jahrhundert