Hettner: Goethes italienische Reise.
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Abguß eines Säulenkapitäls vom Pantheon sein Glaube an die nordische
Kunst zu wanken begann, und das 1773 in Wetzlar entstandene Gedicht
„Der Wanderer" ist ein schönheitsvoller Nachklang dieser neuen Empfindungen;
doch noch lange Zeit gehörte sein Herz ganz ausschließlich der tüchtigen,
derben und glänzenden Naturfülle der Niederländer und der schlichten
Innigkeit und Kraft der altdeutschen Meister. In Weimar erwachte sein
Sammeleifer; er gilt durchaus dieser Richtung. Und noch 1780 kann er
in seinen Briefen an Merck und Lavater nicht müde werden, vornehmlich
Albrecht Dürer zu preisen. Lerne man Dürer recht im Innersten erkennen,
so überzeuge man sich immer mehr, daß er an Wahrheit, Erhabenheit und
selbst Anmut nur die ersten Italiener zu seinesgleichen habe. Als aber im
Anfang der achtziger Jahre jene tiefgreifenden inneren Wandlungen auf¬
keimten, welche in der Dichtung ihn mehr und mehr zur hohen Kunst¬
idealität antikisierender Formen führten, da erfolgte naturgemäß auch in
seinem Verhältnis zur bildenden Kunst eine Umstimmung, welche dieser ver¬
änderten Stilrichtung durchaus parallel war. Die alten freundschaftlichen
Beziehungen zu Oeser wurden wieder erneuert. Mit Eifer wurden, wie
wir aus einem Briefe Goethes an Knebel vom 26. Februar 1782 ersehen,
Rafael Mengs' kunsttheoretische Schriften gelesen und gepriesen. Die Ab¬
wendung von der derben mittelalterlichen Kunst vollzog sich in Goethe um
so leichter, da Goethe, wie er selbst in seinem 1823 geschriebenen Aufsatz
„Von deutscher Baukunst" berichtet, seit seiner Entfernung von Straßburg
kein wichtiges, imposantes Werk der Gotik mehr gesehen hatte und die
früheren Eindrücke inzwischen in ihm so durchaus erloschen waren, daß er
sich kaum noch jenes Zustandes, in welchem ein solcher Anblick ihn zum
lebhaftesten Enthusiasmus angeregt hatte, zu erinnern wußte. Die ita¬
lienische Reise steigerte diese antikisierende Richtung zu schärfster Aus¬
schließlichkeit.
Schon der erste Eintritt in Italien war entscheidend. Man vergegen¬
wärtigt sich nicht immer, wie unglaublich wenig von künstlerischen Dingen
Goethe bisher gesehen hatte. Von München aus, in einem Briefe vom
6. September 1786, klagt er, daß sein Auge für Gemälde und plastische
Werke nicht geübt sei, und in der ersten Hälfte seiner Reise kehrt dies Be¬
kenntnis der Ungeübtheit oft wieder. Nichtkünstler bedürfen zur ersten Ein¬
führung in tieferes Kunstverständnis fast immer der Leitung und Vermitt¬
lung einsichtiger Kunstschriftsteller, welche ihnen die weite Kluft, durch die
das Empfinden und Denken in Wort und Begriff getrennt ist, überbrücken
helfen. Für Goethe wurde dieser Leiter und Vermittler Palladio, dessen
streng antikisierende Renaissancebauten ihm sogleich in Vicenza herzgewinnend
entgegentraten und ihn zum eingehendsten Studium seiner theoretischen