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(Kaiser Wilhelms Charakter.) Kaiser Wilhelm war, seinen
Eltern gleich, anspruchslos, einfach, pflichttreu und fromm. Daß er
stets bereit war, Gott die Ehre zu geben, beweist der Brief, den er
nach der Schlacht bei Sedan an die Kaiserin schrieb: „Ich beuge
mich vor Gott, der allein mich, mein Heer und meine Mitverbündeten
ausersehen hat, das Geschehene zu vollbringen."
In seiner Lebensweise und in seiner Kleidung war er jedem
Luxus fremd: er schlief auch in Friedenszeiten in einem einfachen
Feldbett, trng einen gewöhnlichen grauen Mantel, der nur selten mit
einem neuen vertauscht wurde, und begnügte sich mit dem wenig ge¬
räumigen Palais unter den Linden oder mit dem noch kleineren Babels¬
berg. Im Felde war die Bagage ans die notwendigsten Bedürfnisse
beschränkt, „und König Wilhelms Feldausrüstung (schreibt ein Engländer)
stach in ihrer Einfachheit außerordentlich gegen den großartigen und
beinahe bunten Zng ab, der Napoleon von Sedan in die Gefangen¬
schaft folgte." Des Königs Pflichttreue wird durch nichts schärfer be¬
leuchtet, als durch das in hohem Alter gesprochene Wort: „Ich habe
keine Zeit müde zn sein." Dem Tode schon nahe, griff er mit starrer,
zitternder Hand nach der Feder, um ein ihm vorgelegtes Aktenstück
zu unterschreiben. Er starb am 9. März 1888 und liegt im Mauso¬
leum zu Charlottenburg begraben. In verschiedenen Städten Deutsch¬
lands sind ihm Denkmäler errichtet, zuletzt in der Reichshauptstadt
vor dem alten Hohenzollernschloß. An sein Werk, die Schöpfung des
Deutschen Reiches, erinnert das Nationaldenkmal ans dem Niederwald.
6. Kaiserin Augusts.
(Tie Prinzessin.) Als die Prinzessin Augusta von Sachsen-
Weimar am 30. September 1811 geboren wurde, war das ganze
deutsche Land den Franzosen Unterthan: ihr Kaiser Napoleon I.
hatte Preußen und Österreich in mehreren Schlachten besiegt und die
kleinen Staaten, die keinen offenen Widerstand wagten, zur Unter¬
werfung gezwungen. In Weimar lebte damals Deutschlands größter
Dichter, Goethe. Er sah die kleine Prinzessin oft in seinem Hanse:
er las ihr Gedichte vor und zeigte ihr Kunstwerke, deren er viele ge¬
sammelt hatte. Zwei Jahre nach der Konfirmation, im Juni 1829,
vermählte sich die Prinzessin mit dem Prinzen Wilhelm von Preußen.
In Berlin fand sie ihre ältere Schwester Marie, die mit dem jüngeren
Bruder ihres Gemahls, dem Prinzen Karl, verheiratet war. Bald
hatte sie sich in der neuen Heimat durch Mildthätigkeit und Freund¬
lichkeit die Herzen gewonnen. Das prinzliche Paar lebte meist auf