Schwab: Priamus bei Achilles.
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eines Mannes, und erschrocken sprach er zu Priamus: „Merk auf,
Herr, hier gilt's Besonnenheit! Sieh den Mann dort, ich fürchte, er
steht auf der Lauer und sinnt auf unsern Tod. Wir sind unbewaffnet,
dazu Greise; laß uns entweder umkehren und schnell in die Stadt zurück¬
fliehen, oder seine Kniee umfassen und ihn um Erbarmung flehen." Den
Greis durchfuhr ein banger Schauer, und seine Haare sträubten sich.
Jetzt näherte sich die Gestalt; es war aber kein Feind, sondern der Ab¬
gesandte Jupiters, Hermes (Merkurius), der Bringer des Heiles, welcher
auserwählte Sterbliche auf ihren Wegen zu begleiten hat. Er faßte die
Hand des Königs, ohne daß dieser ihn erkannte, und sprach: „Vater,
wohin lenkst du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche schlafen, deine
Rosse und Maultiere? Fürchtest du dich denn gar nicht vor den erbitterten
Argivern? Wenn dich einer so viel köstliche Habe durchs Dunkel führen
sähe, wie würde dir wohl zu Mute werden? Sorge jedoch nicht, daß
ich dir etwas zuleide thue, vielmehr möchte ich dich auch vor andern be-
schirmen; gleichst du doch meinem lieben Vater an Gestalt! Aber sage
mir, führst du so viel auserlesene Güter flüchtend nach einem fremden
Lande, oder verlasset ihr alle bereits Troja, nachdem ihr den tapfersten
Mann verloren habt, der keinem Griechen an Mute wich?" Priamus
schöpfte leichter Atem und antwortete: „Wahrlich, jetzt sehe ich, daß die
Hand eines Gottes mich beschirmt, da mir ein so liebreicher und ver¬
ständiger Gefährte auf meinem Wege begegnet, der so schön vom Tode
meines Sohnes redet. Aber wer bist du, mein Guter, und welcher Eltern
Kind?" „Mein Vater heißt Polyktor," antwortete Hermes, „ich bin von
sieben Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genosse des Achilles;
daher ich denn oft mit meinen Augen deinen Sohn kämpfen und die
Argiver zu den Schiffen treiben sah, während wir bei unserm zürnenden
Herrn standen und ihn aus der Ferne bewunderten." „Wenn du ein
Genosse des schrecklichen Peliden bist," fragte Priamus jetzt voll Ungeduld,
„o so verkündige mir, ob mein Sohn noch bei den Schiffen ist, oder ob
Achilles ihn schon, in Stücke zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat?"
„Nein," antwortete Hermes, „erliegt noch im Zelte des Achilles, von
Moder unberührt, obgleich schon der zwölfte Morgen verflossen ist, und
der Held ihn mit jedem Sonnenaufgang ohne Mitleid um das Grab
seines Freundes schleift. Du würdest dich selbst verwundern, wenn du
sähest, wie frisch und tauig er daliegt, vom Blute gereinigt, alle Wunden
geschlossen. Selbst im Tode pflegen die Götter noch seiner."
Voll Freude langte Priamus den herrlichen Becher hervor, den er bei
sich im Wagen liegen hatte. „Nimm ihn," sprach er, „verleihe mir deinen
Schutz dafür und geleite mich zum Zelte deines Herrn." Merkurius, als
scheute er sich, ohne Achilles' Wissen Geschenke zu nehmen, wies die Gabe ad,