Full text: [Teil 7 = Für Obersekunda] (Teil 7 = Für Obersekunda)

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hatten das Recht des Blutbanns, die seltenen Todesurteile wurden nur 
in Wodans Namen gesprochen und verkündigt. Und mit dieser Vorstellung 
hing wesentlich auch ihr fester Unsterblichkeitsglaube zusammen. Das Jen¬ 
seits der Griechen war nur ein ungewisses nebelhaftes Schattenspiel des 
irdischen Daseins, die Walhalla der Germanen dagegen eine freudige Zu¬ 
versicht, die in Schlacht oder Gefangenschaft heldenmütige Todesverach¬ 
tung erzeugte. 
Am unmittelbarsten aber blickt der Geist dieser Götterlehre uns aus 
der Edda an, seltsam fremd und doch befreundet H. In diesen mytho¬ 
logischen Götter- und Heldengedichten, die ursprünglich von Deutschland 
ausgegangen, aber erst in der späteren skandinavischen Auffassung bis 
auf uns gekommen sind, waltet ein tragischer Tiefsinn, in welchem wir 
bereits eine Ahnung von der göttlichen Wahrheit des Christentums kaum 
verkennen können. Unter dem Baum des Lebens, der heiligen Esche Agdra- 
sill, die ihre Wurzeln durch alle Tiefen und ihre Zweige über das Weltall 
ausbreitet, kämpfen die Äsen und Lichthelden mit den alten Naturkräften 
und Riesen der Finsternis. Aber alle diese Helden sind dem Untergange 
geweiht, der sich durch den Tod Balders, des schönsten unter ihnen, weh¬ 
mütig ankündigt. Denn die „Dämmerung" der Götternacht bricht unauf¬ 
haltsam herein, und noch einmal siegt die alte Finsternis und der furcht¬ 
bare böse Loke, bis endlich die neue Götterwelt in himmlischer Verklärung 
emporsteigt. 
Erblichen sind diese Göttergestalten vor dem neuen Morgenrot, ver¬ 
klungen alle Heldenlieder dieser Zeit; nur das Bruchstück des Hilde¬ 
brandsliedes und zwei in Merseburg wieder aufgefundene Zauber- 
sprüche?) gemahnen uns noch wie rätselhafte Trümmer einer versun¬ 
kenen Welt. Aber eine dunkle Erinnerung an die verschollenen Heroen 
und Sagen ist im Volke geblieben, und mit ihr jener wundervolle Natur¬ 
klang und tragische Geist der Edda, der mythische Kampf mit den Riesen 
und Ungeheuern der Finsternis und der großartige Untergang der alten 
Heldengeschlechter, der das Grundthema aller späteren Volksepen und 
mittelalterlichen Rittergedichte bildet. 
Jos. Freih. v. Eichendorff, 
Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Teil I, 1861. 
2. Die epische Dichtung und das Nibelungenlied. H 
Die epische Dichtung erwächst aus den verschiedenartigen Zuständen, 
in welche die Geschichte ein Volk versetzt, ja, sie ist die erste und frühste 
Geschichte eines Volkes selbst. Alles, was es erlebt hat, sei es nun in 
1) Vgl. a. a. O. S. 31 u. unten Nr. 2 und 3. 2) Vgl. die Sprachprobeu Nr. 3 und 4. 
3) Vgl. Nr. 9—19. S. 15—77. '
	        
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