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15. Das Mittelalter als Grundlage der Neuzeit.
Die Regierungszeit Philipps IL August bedeutet für Frankreichs mittelalterliche
Geschichte eine entscheidende Wendung. Der Zeitgenosse des Richard Löwenherz,
des Johann ohne Land und des deutschen Doppelkönigtums nach Heinrichs VI. Tode
hat Frankreich wieder eine europäische Stellung und seinem Königtum wieder eine
festbegründete Macht gegeben. Seine Nachfolger konnten in Italien den deutschen
Einfluß durch den französischen ersetzen, die deutsche Stellung im Königreich Burgund
völlig untergraben und das Papsttum von Frankreich so abhängig machen, wie es vom
römisch-dentschen Kaiser nie gewesen war.
Der Thronfolgestreit der Valois mit dem englischen Königshause stellte diese
Errungenschaften wieder in Frage. Schwerer innerer Hader, dann die Untreue des
mächtigsten, dem regierenden königlichen Hause selbst entsprossenen Vasallen, des
burgundischen Herzogs, brachten Land und Königtum in die schwierigsten Lagen.
Der Papst konnte der „babylonischen Gefangenschaft" ein Ende machen und von
Avignon nach Rom zurückkehren. Aber die drohende Fremdherrschaft entflammte
auch den früh und stark entwickelten nationalen Stolz der Franzosen. In der Gestalt
der Jungfrau von Orleans fand ihre heiße, hingebende Vaterlandsliebe eine so wun-
derbare wie glänzende Verkörperung. Die Fremden mußten vom Boden Frankreichs
weichen; das Königtum trug aus der patriotischen Erhebung in einer festem Ausge¬
staltung des Finanz- und Heerwesens wertvolle Vorbedingungen dauernder Macht-
stellung davon.
Ludwig XI., der Macchiavellist vor Macchiavell, dessen Staatskunst doch nicht
zum erstenmal auf Frankreichs Thron geübt wurde, errichtete auf diesem Grunde das
Gebäude, in dem zugleich Frankreichs Einheit und seine Leitung durch eine starke
Königsgewalt gesichert wurden. Frankreich gewann einen weiten Vorsprung vor
seinem östlichen Nachbarn, hinter dem es in der ersten Hälfte des Mittelalters zurück-
gestanden hatte. Hoher und niederer Adel waren bereit, Ehrgeiz und Kriegslust, in
allen Ländern am Mittelmeer schon so oft und so glänzend betätigt, in den Dienst der
Krone zu stellen. Ein kräftig entwickeltes Bürgertum sah in ihr seine Hauptstütze,
ohne daß doch der Gang der Ereignisse ihm jemals gestattet hätte, ein politisches
Selbstbestimmungsrecht zu erstreben, wie es italienische und deutsche Städte
besaßen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch unter abweichenden Formen, entWickel-
ten sich die Dinge in England und auf der pyrenäifchen Halbinsel. Die Mißerfolge
auf französischem Boden wurden für England zu Erfolgen in der Heimat. Es behielt
ein nationales Königtum, anstatt sein regierendes Hans zu teilen mit dem Lande, dem
die Dynastie entstammte. Die normannische Eroberung hatte das Königtum fester
in den Sattel gesetzt als irgendwo sonst in Europa, Unteritalien ausgenommen, wo
ebenfalls Normannen den Staat begründeten. Anderseits standen in bezug auf Ver¬
anlagung für Entwicklung eines zugleich freien und kräftigen Staatswesens, die man
den germanischen Stämmen mit Recht nachrühmt, die Angelsachsen in vorderster
Reihe, und die Betätigung dieser Veranlagung wurde befördert, ja eigentlich erst
möglich gemacht, durch ihr enges Zusammenwohnen auf einem Gebiete, das den
Umfang eines deutschen Stammesherzogtums nicht überstieg.
So hielten sich Königtum und ständische Gewalt in England mehr das Gleich-
gewicht als in irgendeinem andern Lande des mittelalterlichen Europa. Die schweren
dynastischen Kämpfe, die besonders nach dem letzten erfolglosen Ringen um den fran-
zösischen Festlandsbesitz das Land heimsuchten, fanden 1485 in der Thronfolge der