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Wahl verlesen, während Hildebrand unter Thränen noch
um Loölassung bath. Alles umsonst. Selbst Heinrich IV.,
an welchen er sich mit der Bitte wendete, die Wahl nicht
zu bekräftigen, schlug ihm sein Gesuch ab, weil er sich
der Demuth des Prälaten freute. So bestieg denn Hil¬
debrand als Gregor VH. den heiligen Stuhl. — „Jetzt
arbeitete er mit aller Kraft seines festen Willens, mit
der Sicherheit, die nur die Überzeugung von einer guten
Sache eingibt, und mit der unerschütterlichen Standhaf¬
tigkeit, die selbst durch das Unglück erhöht wird, an der
Ausführung jenes Entwurfs, für den er schon vorher
wirksam gewesen war. Das Ziel seines Lebens war kein
geringeres, als die Rechte der Kirche, ihre völlige Un¬
abhängigkeit von jeder Staatsgewalt und von allem Ein-
siuß der weltlichen Macht über jeden Streit zu erheben.
Er ging von dem wahren und einfachen Gedanken aus,
daß, wenn die Päpste die Nachfolger Christi seyn sollten,
sie die Vorsteher seines Reiches, der ganzen Christenheit,
waren, dessen höchster Zweck die Erhebung zur Sittlich¬
keit und zu geistiger Reinheit sey. Diesen Zweck als den
einzigen geltend zu machen, dem jede irdische und poli¬
tische Rücksicht untergeordnet werden müßte, war in seiner
Vorstellung die erhabene Bestimmung eines wahren Pap¬
stes. Um die Verwirklichung dieser Zdee, nicht um die
Befriedigung eines eitlen Ehrgeizes oder sinnlicher Triebe
war es einem Manne zu thun, den die nüchterne Klüge-
ley einer modischen Afterweisheit und eine unverzeihliche
Verwirrung von Begriffen, die auf seine Zeit keine An¬
wendung finden, nur zu oft ungerecht herabgesetzt und
falsch gewürdiget hat" *).
Zuerst richtete Gregor sein Augenmerk auf eine durch¬
greifende Verbesserung und Verjüngung des geistlichen
Standes selbst. Die Klage über dis Sittenlosigkeit des
') S. Rühs Handbuch der Geschichte des Mittelalters.
Berlin, 1816. S. 367 ff.