Full text: (8. bis 10. Schuljahr) (Ausg. M (für höhere Mädchenschulen), Oberstufe)

Die Geographie der Lebewesen. 343 
Bei dem kulturell sich entfaltenden Staate gewinnt die politische Idee aber 
größere Standhaftigkeit. In steigendem Maße gehen geistige Kräfte in sie 
ein, das ganze Volk wird zu ihrem Träger, und ihre Erneuerung und Ver— 
jüngung erfolgt nur langsam in dem Maße, wie sich wirtschaftliche und 
geistige Strömungen im Volke ändern. Langsame Umbildungen der politischen 
Idee finden sich auch im modernen Kulturstaat. Das Deutsche Reich war 
ieeimn MNatonal Binnenstaat ausf boltswirtschaftlicher 
Grundlage, es ist seitdem langsam auf Grund seiner industriellen Ent— 
faltung und seiner Volksverdichtung eine Weltmacht mit weltwirt— 
schaftlichen und weltpolitischen Zielen geworden und erfordert daher 
heute andersartige inner- und außerpolitische Maßnahmen wie nach 1871 
(soziale Fragen der Gegenwart, Koloniengründung, Ausbau unserer Flotte, 
Richtung unserer staatlichen Freund- und Feindschaften ꝛc). 
Jeder Staat, sowohl der Dorfstaat des Naturvolkes wie der moderne 
Kulturstaat, ist demgemäß ein Organismus wie der Tierstaat, die Pflanze, 
das Einzeltier, der Einzelmensch. Wenn die Biologen nun unter einem Or— 
ganismus ein lebendes Wesen verstehen, bei welchem sich alle einzelnen Teile 
(S die Organe) einem obersten Zwecke (der Selbsterhaltung) unterordnen, so 
bildet der Staat im Wortsinne einen recht unvollkommenen Organis— 
mus, bei welchem die einzelnen Organe größte Selbständigkeit besitzen und zur 
Not auch weiter existieren können, wenn sie vom Ganzen losgelöst sind. Der 
Menschenstaat steht demnach in der Mitte zwischen vollkommenen Organismen 
und bloßen Aggregaten (z. B. Gesteinsarten wie Granit, Sandstein) Er 
ist also ein Aggregatsorganismus, bestehend aus einem Boden— 
und Volksorgan, bei welch letzterem eine mehr oder weniger 
große Selbständigkeit dem Ganzen oder einzelnen Teilen 
gegenüber vorhanden ist. Die Größe des Bodenorgans 
unterscheidet jeden menschlichen Staat ganz wesentlich vom 
Dierstagat, sie bewirkt eine ganz andere Dauerhaftigkell als 
bei diesem und zeitigt staatliche Lebenserscheinungen, welche 
hier fast vollständig fehlen. 
2. Die organischen Lebenserscheinungen der Staaten. Das jeden 
Organismus charakterisierende Leben zeigt sich bei den Staaten in foͤrt— 
dauernden Wachstums- und Rückbildungsvorgängen. Das, 
was man im gewöhnlichen Leben als Weltgeschichte bezeichnet, ist meissenteils 
nichts anderes als die Feststellung solcher Wachstums- und Rückbildungs⸗ 
prozesse. Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit lehrt, daß die Wachs— 
tumserscheinungen die Rückbildungsprozesse bei weitem überwiegen. Sie sind 
innere und äußere und vollziehen sich hinsichtlich des Volksorgans in der 
Zunahme der Bevölkerung, hinsichtlich des Bodenorgans aber in den 
Formen der Eroberung, der inneren und äußeren Kolonisation. 
Dieses allgemein zu beobachtende Staatenwachstum ist eine Folge fort— 
schreitender Kultur, welche fortdauernd neue wirtschaftliche Hilfsquellen 
des Bodens erschließt, neue Bequemlichkeitsbedürfnisse entstehen läßt, damit 
aber zu umfänglicherer Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung führt; sie ist 
weiter eine Folge der Verkehrsentwicklung und der Verbreitung 
religiöser und nationaler Ideen. Die letzteren spielen im Staatenwachstume 
erst seit dem 19. Jahrhunderte eine größere Rolle. Die räumliche Zunahme 
der Staaten ist die Ursache für eine fortdauernde Abnahme der Zahl
	        
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