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Gehorsam auf; Jeder that nur, was er selbst wollte. Der
nagendste Hunger, die fürchterlichste Kälte bei dem Mangel an
warmer Bekleidung, raubte Vielen die Besinnung, und tödtete
jedes Mitgefühl. Wie wilde Thicre dachte Zeder nur an Stil¬
lung seines Hungers; sobald ein Pferd fiel, stürzten die Hung¬
rigen darauf los, zerrissen es in Fetzen, und schlugen sich dar¬
um. Sank ein Sterbender um, so warteten die Andern nicht
seinen letzten Athemzug ab, sondern entrissen ihm seine Kleider
sogleich. Vergebens streckte der Hülflose seine Hand aus;
Keiner reichte ihm die seinige, um ihm aufzuhclfen; wer ein¬
mal fiel, war verloren, weil es ihm an Kräften gebrach, sich
wieder zu erheben. Es herrschte eine Todtenstille; Zeder war
mit seinem Schicksal beschäftigt, und wunderte in dumpfer Er¬
gebung vor sich hin. Noch gräßlicher als die Tage waren die
langen Nächte. War es gelungen, ein Feuer anzumachcn, so
kamen jeden Augenblick todtenähnliche Gestalten herbcigcwankt,
um sich zu erwärmen, wurden aber zurückgestoßen. Die einen
Platz fanden, setzten sich auf die herumlicgenden Leichen, weit
es ihnen an Kraft fehlte, sie fortzuschaffen. Andere waren von
der Kälte und dem Hunger wahnsinnig geworden; sie rannten
auf das Feuer zu, grinzten, sictschten die Zähne, und stürzten
sich mit einem höllischen Lachen in die Gluth, wo sie unter
gräßlichen Zuckungen ihren Tod fanden.
So erreichten die Ucberreste des großen Heeres am 9ten
December die Stadt Wilna. Die Kälte war jetzt bis auf
28 Grad gestiegen. Hier hofften sie einige Ruhe zu genießen;
aber die Nüssen jagten sie bald wieder auf, und das Geschrei:
„Kosacken! Kosacken!" setzte die Unglücklichen wieder in Be¬
wegung. Die zum Fliehen zu schwach waren, wurden von
den Kosacken niedergemetzelt. Als nun endlich die Fliehenden
die polnische Gränze erreichten, waren von der ganzen großen
Armee nur noch einige hundert Mann der alten Garde unter
den Waffen, und das Eorps des Vicekönigs Eugen war so
zusammengeschmolzen, daß es in einem einzigen kleinen Zimmer
Platz hatte. Wie ungeheuer der Verlust der Franzosen in Ru߬
land gewesen sey, geht daraus hervor, daß in den ersten Mo¬
naten des folgenden Zahrcs, als die Schneedecke wegthaut^