60
die deutschen Frauen fast sämmtlich in Leinwand gekleidet; indessen
zu Hemden d. h. zu einer stetigen Unterkleidung auf der bloßen Haut
wurde die Leinwand noch lange nicht benutzt, weil man überhaupt
kein Hemd trug; denn die alten Schriftsteller erzählten es als eine
große Seltenheit, daß eine Heilige, welche im 8. Jahrhundert lebte,
ein Hemd getragen hat. In Frankreich trug die Gemahlin Karl VII.
die ersten leinenen Hemden und wahrscheinlich sind sie um diese Zeit
(im 15. Jahrh.) auch in Deutschland in allgemeinen Gebrauch ge¬
kommen, denn um die Zeit der Reformation waren sie in Deutsch¬
land selbst im niederen Volke schon ziemlich allgemein; wahrscheinlich
ist es, daß diese allgemeine Verbreitung der Leinwand zu Hemden
und auch zu Oberkleidern nach der Erfindung des Spinnrades erst
erfolgte. Das Spinnrad bürgerte sich bald in allen Häusern ein,
und sein Gebrauch führte unter der ländlichen Bevölkerung zuerst das
Bedürfniß nach Stuben überhaupt und im Winter nach geheizten
Stuben herbei. Am Spinnrade verlebte die weibliche Jugend auf
dem Laude ihre langen Winterabende und in einigen Gegenden auch
die männliche; in den Spinnstuben waren die geselligen Zusammen¬
künfte der erwachsenen Dorfjugend; hier herrschten Scherz, Lust und
Freude, hier wurden die Sagen und Geschichten unseres Volkes fort¬
gepflanzt und erhalten bis in unsere Tage. Am Spinnrade hatte die
deutsche Jungfrau von ehedem ihren Ehrenplatz, und hier erwarb
sie die Schätze in Kisten und Kasten, auf deren Besitz stolz sie einst
in das Haus ihres jungen Ehemannes zog.
Auf diese Weise wurde in Deutschland weit mehr Leinwand an¬
gefertigt, als verbraucht werden konnte, und so entstand die Ausfuhr
deutscher Leinwand in alle Länder Europas und nach den civilisirten
Gegenden anderer Welttheile, namentlich nach Amerika. Je mehr
nun die Nachfrage nach deutscher Leinwand im Auslande zunahm,
je mehr Menschen wandten sich diesem lohnenden Gewerbe des Flachs¬
baues und der Leinwandfabrikation zu; besonders geschah dieses in
Schlesien, Sachsen, Westphalen und Hannover.
Lange strebte das Ausland, namentlich Engländer und Franzosen,