Full text: Weltgeschichte für die katholische Jugend

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c) Das Potsdamer Abkommen 1910. 
Cine Entspannung der zugespitzten europäischen Lage trat dadurch 
ein, daß Sasonow, der neue Minister Rußlands, der Nachfolger Is- 
wolskis, scheinbar versuchte, freundschaftliche Beziehungen zu Deutsch¬ 
land herzustellen. Im Dezember 1910 reiste der Zar mit ihm nach 
Potsdam. Hier wurde das herzliche Verhältnis zu Kaiser Wilhelm 
betont, und im nächsten Jahre während des zweiten Marokko-'Abkommens 
auch eine deutsch-russische Verständigung über Persien und die Bagdad- 
bahn erzielt. Die Wolken schienen wie fortgeblasen. Heute nehmen wir 
an, daß Rußland w.gen seiner ungenügenden Rüstung Zeit gewinnen 
wollte und darum alle deutsch-feindlichen Bestrebungen nach außen ver¬ 
mied, während im Inneren gerade 1910/11 eine allgemeine Demschen- 
hetze einsetzte. Wenn der Zar es vielleicht ehrlich meinte, so hatte er 
nicht genügend Einfluß aus die Kriegspartei; außerdem wollte diese 
es wohl auch den Westmächten nahelegen, daß Rußland nicht von ihnen 
abhängig sei und nötigenfalls auch selbständig handeln könne. In Lon¬ 
don und Paris entstand jedenfalls lebhafte Beunruhigung über das 
scheinbare Abrücken des Dreiverbandsgenossen; beide Staaten bemühten 
sich nun mit doppeltem Eifer um ihn und erhielten auch bald von 
St. Petersburg die geheime Mitteilung, daß alles beim alten bleibe. 
In Berlin aber übersah man die Deutschenhehe und die feindliche 
Orientpolitik und glaubte zuversichtlich, die alte russische Freundschaft 
sei wiederhergestellt. Wie der Dreiverband tatsächlich gesonnen war, 
zeigte sich in seiner zweiten Machtprobe, der zweiten Marokkoentscheidung 
von 1911. 
4. Das zweite Marokko-Abkommen 1911. 
Da man in England und Frankreich den damaligen Zustand als 
unbefriedigend empfand, hielt man einen neuen Vorstoß für nötig, und 
dazu sollte Marokko der Kampfgegenstand sein. Frankreich war nämlich 
nicht gesonnen, die Abmachungen von 1906 und 1909 zu halten, sondern 
nutzte die Wirren in Marokko aus, um den Sultan völlig von sich ab¬ 
hängig zu machen. Im März war Delcasse wieder Minister geworden 
und hatte gegen Deutschland gehetzt. Am 22. Mai 1911 zogen fran¬ 
zösische Truppen zum Schutz der angeblich bedrohten Hauptstadt Fes 
dort ein. Damit war aber die Selbständigkeit Marokkos vernichtet. 
Die deutsche Regierung war auch entschlossen, jetzt fest zuzugreifen, 
da sie damals durch Rußland sich im Rücken gedeckt glaubte, um die 
Marokkostreitigkeiten nun endgültig zu erledigen. Zur itberraschung 
der Gegner, die glaubten, Deutschland ließe sich einschüchtern, erklärte 
v. Kiderlen-Wächter, Deutschland könne die Besetzung Marokkos nur 
gegen anderweitige Entschädigungen anerkennen. Als die Verhand¬ 
lungen sich hinzogen, wurde das deutsche Kanonenboot Panther nach 
dem westmarokkanischen Hafen Agadir gesandt als Hinweis für Frank¬ 
reich, daß Marokko noch keine französische Kolonie sei. Eine Besitz- 
erwerbung von gewisien Teilen des Landes, die viele Deutsche wgen 
seines Crzreichtums erhofften, war von vornherein nicht beabsichtigt.
	        
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