Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

Becker. Odypeus erzählt den Phäaken seine Abenteuer. 
103 
Stadt ihn und sein Haus verschonten. Mit großem Bedachte versorgte 
ich mich mit dem süßen, herzbezwingenden Trank; denn es ahnte mir, 
ich würde auf unbändige Menschen stoßen, nicht zu bezwingen durch 
Recht noch durch Rede. 
Als wir angekommen waren, verbarg ich mein Schiff vorsichtig in 
einer heimlichen Bucht und trat mit meinen Gefährten und meinem 
Weinschlauche an das Land. Nicht fern erblickte ich eine gewaltige 
Felsenhöhle, rings umbaut mit einem Walle von großen Steinen und 
beschattet von einer Reihe hochstämmiger Fichten und Eichen. Das 
war die Wohnung des fürchterlichsten unter den Riesen, wo er nachts 
mit allen seinen Ziegen und Schafen hausete; denn Herden zu weiden 
war seine einzige Beschäftigung. Er war ein Sohn Poseidons, und 
Polyphemus sein Name. Auf der Stirn hatte er wie alle Cyklopen 
ein einziges, aber entsetzliches Auge, und in seinen Armen lag eine 
Kraft Felsen wegzuwälzen und Granitblöcke wie Kiesel durch die Luft 
zu schleudern. Einsam zog er auf den Bergen umher, und keiner der 
andern Cyklopen hatte Umgang mit ihm; denn er war roh und sann 
nur auf Verderben und boshaften Frevel. Ich Unglücklicher, das nicht 
vorher zu wissen! Ich ging mit zwölf der tapfersten Genossen auf die 
offene Höhle zu, die wir sogleich betraten. Wir fanden ihn nicht 
darinnen, denn noch war die Sonne nicht untergegangen, und er weidete 
in der Ferne noch seine Herden. Wunderbar erschien uns der An¬ 
blick der Ställe umher, die voll von Lämmerchen und jungen Ziegen 
waren, jede Gattung besonders eingesperrt. Da standen Körbe und 
Kübel mit Käse und Milch, auch Molken in großen Gefäßen und Eimer 
zum Melken. Meine Begleiter hatten große Lust ein paar Körbe mit 
Käse aufzuladen, eine Partie Lämmer und Zicklein vor sich hinzutreiben 
und so auf dem Schiffe schnell wieder zu entfliehen, ehe der grause 
Höhlenkönig nach Hause käme. Aber das verbot ich, denn ich war 
allzu begierig den Mann kennen zu lernen und hoffte wohl im guten 
ein Gastgeschenk von ihm zu bekommen, wie es unter gastfreien Men¬ 
schen Sitte ist. Aber wie hatte ich mich geirrt! 
Wir setzten uns nieder in der Höhle, zündeten ein Feuer an zum 
Opfer und aßen zum Zeitvertreib ein paar Käse, bis der Cyklop zurück¬ 
kommen würde. Erst am Abend erschien er mit seiner ganzen Herde 
vor dem Eingänge; wir traten erschrocken bei Seite, und er sah uns 
nicht gleich. Auf seiner Schulter trug er eine gewaltige Last gespal¬ 
tenen Holzes, das er sich mitgebracht hatte, um das Abendessen zu be¬ 
reiten. Mit lautem Getöse stürzte er die ganze Ladung auf den Boden 
nieder. Da krachte der Felsen, und wir flohen aus Furcht in den 
innersten Winkel der Höhle. Dann trieb er die Ziegen und Schafe 
herein, und nun verrammelte er den Eingang mit einem Felsstück, das 
zweiundzwanzig vierrädrige Wagen nicht von der Stelle gezogen 
haben würden. Jetzt waren wir gefangen und in der Gewalt des Un¬ 
geheuers. Noch sahen wir ihm unbemerkt ein Weilchen zu, wie er sich 
gemächlich auf die Erde setzte und ein Tier nach dem andern heranzog, 
um es zu melken, wie er dann die Milch in die dichtgeflochtenen Körbe
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.