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weisen. Sie flog immer von Busch zu Busch vor ihm her, dem
Laufe des Baches entgegen, der aus den Bergen kam. Bald hob
sich der Boden, und der Bach plätscherte lauter zu Werners Füßen
dahin; dann gelangte er in ein ansteigendes Thal, welches sich immer
mehr verengte, indes die Seitenwände steiler wurden, und zuletzt, als
der Bach plötzlich um einen Felsvorsprung bog, sah Werner vor sieb
eine glatte Steinwand, die hoch aufragte und oben mit mächtigen
Tannen gekrönt war. Der siebte Vogel war plötzlich verschwunden,
doch tönte seine Stimme von oben in der Ferne verhallend: „Gleich!
Gleich!"
Werner setzte sich auf einen Felsblock und betrachtete die Stein¬
wand. Sie war glatt und ohne Fugen und mit Moos und bunten
Flechten bewachsen; sonst war nichts an ihr zu sehen. So saß er
und wartete. Der Bach schoß unablässig plätschernd zur Seite aus
einem Felsenspalt, und aus den Tannenwipfeln kam das eintönige
Singen der Zweige, sonst war kein Laut ringsum vernehmbar. Endlich
hörte er ein leises Flattern über sich und eine Haselnuß fiel vor seine
Füße. „Nimm! Nimm!" rief der kleine Vogel. „Beiß auf! Beiß auf!"
Werner nahm die Nuß und betrachtete sie. Es war nichts
Besonderes an ihr zu sehen, aber wenn man sie schüttelte, so klapperte
es, als sei etwas Hartes eingeschlossen. Er knackte sie auf und fand
einen zierlichen und goldenen Schlüssel darin. Unterdes war der
kleine Vogel an die Steinwand geflogen, hatte sich dort mit seinen
feinen Füßchen angehäkelt und pickte so emsig zwischen den Flechten
herum, daß die Stückchen davonflogen. Endlich rief er: „Hier! Hier!"
Werner trat hinzu und bemerkte nun ein kleines mit Silber
eingefaßtes Schlüsselloch. Der goldene Schlüssel paßte ganz genau
hinein, und als Werner ihn umdrehte, da ging ein merkwürdig feines
Klingen durch die Steinwand, und es that sich ganz von selbst eine
schwere Thür auf, welche so genau in ihren Rahmen paßte, als sei
sie eingeschliffen. Zugleich strömte eine warme, bläuliche Luft aus
der Öffnung hervor, und es verbreitete sich ein Duft nach ausge¬
blasenen Wachskerzen und angesengten Tannennadeln.
„O, wie riecht das nach Weihnachten!" sagte der kleine Werner.
Der Vogel aber rief: „Hinein! Hinein! Fix! Fix!"
Kaum hatte Werner, dem doch etwas ängstlich zu Mute war,
ein paar Schritte in den dunklen Gang hinein gemacht, so fühlte er
hinter sich einen Luftzug, und plötzlich war es ganz finster, denn die
Thür hatte sich lautlos wieder geschlossen. Nun sank ihm doch ein
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