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6. Frankreich zur Zeit der sog. Restauration.
der Herrschaft des Alten über die neuen politischen Ideen des
Jahrhunderts.
Je kühner die Reaction voranschritt, desto stärker wuchs die oppo¬
sitionelle Stimmung gegen die Regierung, und blieb auch nicht ohne
Einfluß auf die Kammern, wo sich innerhalb der Rechten verschie¬
dene Parteien bildeten, die keineswegs in der Unterstützung des Mi¬
nisteriums einig waren. So erlitt dieses eine wiederholte Niederlage
bei den Verhandlungen über die von ihm vorgelegten Gesetzentwürfe
zur Einführung eines Erstgebnrtsrechtes (bei allen Erbschaften von
mindestens 300 Franken Grundsteuer), zur Unterdrückung der Preß-
vergehen und zur Wahl der Geschworenen (bloß aus den Wahlmän¬
nern). Ein unzweideutigeres Zeichen vom Umschwünge der öffent¬
lichen Meinung war es, als bei einer Revue der Pariser National¬
garde, statt des erwarteten: „Es lebe der König!" aus den Reihen
derselben der Ruf: „Nieder mit den Ministern!" erscholl, worauf die
Auslösung der Nationalgarde erfolgte. Das letzte Mittel, welches
Villele ergriff, um sich zu behaupten, die Auflösung der zweiten
Kammer, schlug vollends fehl, denn bei den neuen Wahlen erhielt
das Ministerium nur 125 Stimmen (unter 428) für sich. Villele,
der auch am Hofe mit persönlicher Abneigung zu kämpfen hatte,
konnte nicht verkennen, daß seine Zeit vorüber sei und nahm seine
Entlassung.
Ir. Das Ministerium Martignac (1828—1829)
war eigentlich nur ein provisorisches, das zunächst den Kammern
gegenüber aushelfen sollte, dessen sich aber Karl sobald als möglich
zu entledigen gedachte, um dann seinen Günstling Polignac an die
Spitze der Geschäfte zu berufen. Martignac ließ sich jedoch nicht
irren. Er legte den Kammern mehrere Gesetzentwürfe (namentlich
einen über die Aufhebung der Censur) vor, die von der Nation mit
Freude ausgenommen wurden, während der König sich nur mit Wi¬
derwillen dazu verstand. Im Jahre 1829 trat der merkwürdige Fall
ein, daß die Linke und Rechte gegen das Ministerium vereinigt
stimmten, natürlich aus entgegengesetzten Beweggründen, indem die
Linke weitergehen wollte als das Ministerium, die Rechte nicht so
weit. Daher zog dasselbe das mit ungemeiner Sorgfalt ausgear¬
beitete Gesetz über die längst ersehnte Gemeinde- und Departemental-
Ordnung zurück. Das hatte Karl gewünscht und er kam selbst in
den Verdacht, daß die Verwerfung der ministeriellen Vorschläge über
die Verhandlung des Gesetzes sein Werk gewesen sei. Die Rechte
wenigstens handelte auf seinen Befehl und mit seiner Uebereinstim-
mung. Das Ministerium überlebte den Schluß der Kammersitzungen
nur um 8 Tage; seine Verwaltung war nach allen Richtungen hin
heilbringend gewesen. Karl aber führte sein längst gehegtes Vorhaben