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net wird. Das Unterscheidende dieser Kirche bestand von jeher
darin, baß sie eine größere Unabhängigkeit vom päbst-
lichen Stuhle behauptete. Der erste Grund ihrer größeren
Freiheit ward durch die im Jahr 1438 geschlossene pragma¬
tische Sanclion gelegt. Die in diesem zwischen dem Pabste
und dem Könige geschlossenen Vergleiche festgesetzten Bestim¬
mungen wurden im Jahr 1681 bestätigt und erweitert. Es
entstand nämlich zwischen dem Könige Ludwig XIV. und
dem Pabste Jnuocenz XI. ein Streit über das bisher von
den Königen ansgeübte Recht, während der Erledigung eines
Bisthums, die niederen geistlichen Stellen in demselben zu
besetzen. Dieser Streit halte die Folge, daß der König im
Jahr 1681 den französischen Klerus zn Paris versammelte,
welcher folgende vier Artikel, wodurch die Freiheit der galli-
canischen Kirche bestimmt ward, abfaßte. 1) Gott hat dem
heiligen Petrus und dessen Nachfolgern keine Gewalt über die
weltlichen Angelegenheiten ertheilt. 2) Die gallicanische Kir¬
che tritt dem Concilinm von Constanz bei, welches die Ge-
neralconcilicn in geistlichen Sachen über den Pabst setzt. 3)
Die in der gallicanische» Kirche angenommenen Regeln, Ge¬
wohnheiten und Gebräuche können nicht von dem Pabste ver¬
ändert werden. 4) Die Entscheidungen des Pabstes in Glau-
benssachen sind dann erst unfehlbar, wenn die Kirche sie an¬
genommen hat.
Die evangelisch-lutherische Kirche, die auch, mit
der reformirten zugleich, die protestantische genannt
wird, unterscheidet sich durch folgende Lehrsätze: 1) Sie
erkennt weder das Ansehn des Pabstes, noch irgend eines
anderur-Menschen, in Angelegenheiten des Glaubens, für gif¬
tig , sondern sie behauptet: daß die heilige Schrift, wohlge¬
prüft, richtig verstanden und erklärt, die einzige untrügliche
Quelle von Religionswahrheiten, die höchste, entscheidende
Richterin in Glanbenssachen sey. 2) Sie maßt sich kein An¬
sehen an, das ihr nicht gebührt, keine Unfehlbarkeit, die nur
dem Allwissenden zukommt; sie beruft sich uicht ans mündliche
Ueberliefernng (Tradition); sie »erstattet ihren Wortführern
und Vorstehern nicht, sich so zu betragen, als ob sie im Be¬
sitze geheimer Kenntnisse lind zn alleinigen Aufbewahrern und
Ansspender» derselben verordnet wären. 3) Sie schreibt Nie¬
manden gebieterisch vor, wie er die heilige Schrift deuten
und verstehen soll, sondern macht es blvs jedem zur Gewis¬
senssache, seine eigene Vernunft und die Eiusichteu,
welche er besitzt, so treu und redlich anznwenden, als es die
Ehrwürdigkeit des Gegenstandes erfordert. 4) Sie gründet
sich einzig und allein auf evangelische n Glauben, und