Full text: Mittlere Geschichte (Theil 2)

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die erschütterndsten Scenen dargestellt. Der Anblick der Orte, welche einst 
der Heiland betreten, hätte ihn mit unaussprechlichem Entzücken erfüllt; hätte 
er über seine Augen auf die entweihten Christentempel, auf die stolz einher¬ 
schreitenden Muselmänner, und aus die muthlos umherschleichenden Christen 
geworfen, so hätte ihn eine so tiefe Wehmuth ergriffen, daß er weder Tag 
noch Nacht Ruhe habe finden können. Er sei zum Patriarchen geeilt, um 
Trost zu suchen, habe aber nur ohnmächtige Thränen gefunden. Die Angst 
habe ihn zur Kirche des heiligen Grabes getrieben. Hier, in der Stille der 
Nacht, ergriffen von der Heiligkeit des Orts, abgespannt von den Sorgen 
der Seele, sei er in der Vorhalle des Tempels vom Schlafe überrascht worden. 
Im Traume sei ihm der Welterlöser selbst erschienen. „Auf!" habe er ge¬ 
sprochen, „eile in deine Heimath, und wecke die Gläubigen zur Reinigung 
der heiligen Orte. Ihnen Allen, die da gehorchen, sollen die Pforten des Pa¬ 
radieses offen stehen." Mit noch glühenderem Eifer sei er aufgesprungen, zum 
Patriarchen geeilt, habe um Empfehlungsbriefe gebeten, und stehe nun hier 
als ein Werkzeug des Herrn, die christlichen Heiligthümer aus den Händen 
der Ungläubigen zu retten. 
Urban hörte den feurigen Reden Peters mit Aufmerksamkeit zu, und er¬ 
kannte bald, daß dieser Mann ganz dazu geeignet sei, das Volk zu einem 
Zuge nach dem heiligen Grabe aufzureizen. Er erklärte sich daher geneigt, 
eine solche Unternehmung zu unterstützen, und befahl ihm, Italien und Frank¬ 
reich indessen zu durchziehen, und das Volk darauf vorzubereiten. Urban gab 
ihm den apostolischen Segen, und froh schwang sich Peter auf seinen Esel, 
um seine Beredtsamkeit am Volke zu versuchen. 
Peter, der auch von der Kutte, welche er trug, Kuttenpeter oder Kukupeter 
genannt wurde, war damals 4k Jahre alt; aber sein feuriger Geist, seine 
übertriebene Enthaltsamkeit und seine Sorgen hatten ihm oas Ansehen eines 
Greises gegeben. Man denke sich einen kleinen, dürren Mann, mit hohlen 
Wangen, tiefliegenden, feuerblitzenden Augen, und schwarzem Haare, welches 
ihm ungekämmt um den Kopf herumhiug. Er trug ein graues Pilgerkleid, 
mit einem Stricke zugebunden; die Füße waren nackt, und vom Nacken hing 
eine Kapuze herab, die er, wenn es regnete, über den Kopf zog. Dieser An¬ 
zug, verbunden mit einem eingefallenen Gesichte, gab ihm ein gespenstisches 
Ansehen, so daß, wer ihn einmal erblickte, den Blick nicht von ihm wegzu¬ 
wenden vermochte. So durchzog er ein Jahr lang Italien und das Land 
jenseit der Alpen, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wo er einen 
Haufen Menschen um sich erblickte, hielt er seinen Esel an, hob das Kruzi¬ 
fix in die Höhe, und schilderte ihnen mit einer hinreißenden Beredtsamkeit die 
Leiden der Christen in Jerusalem und den Uebermuth der Barbaren. Er 
erzählte ihnen von seinen Erscheinungen, wie Jesus selbst ihn aufgefordert 
habe, das Volk zur Errettung des heiligen Landes herbeizurufen. „Auf! ihr 
Christen!" rief er daun mit glühendem Blick, sich im Sattel emporhebend, 
„auf! der Heiland ruft euch! Wie? und ihr wolltet nicht folgen? Er öffnet 
euch selbst die Thore des Paradieses, und ihr wolltet nicht hineingehen? Alle 
die heiligen Orte um Jerusalem rufen euch zu: Kommt, und errettet uns 
aus den Händen der Barbaren! Der Heiland selbst hat euch erwählt, seine 
heilige Stadt zu befreien. Ich selbst habe oft gehört, wie die geweiheten Orte
	        
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