Full text: Mittlere Geschichte (Theil 2)

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tief ersenszten, wie aus allen Winkeln der Weheruf ertönte: Rettet, ach rettet 
uns! und ihr wolltet noch säumen, ihr erkornen Werkzeuge des Herrn?" — 
Diese Worte begleitete er mit den lebhaftesten Geberden. Thränen strömten 
ihm über die hageren Wangen herab, und schwere Seufzer entstiegen seiner 
Brust. Oft geißelte er sich auch, daß ihm das Blut am Rücken herabfloß. 
Ueberall empfing man ihn als einen Heiligen; keins feiner Worte ging ver¬ 
loren, und wer fein Kleid berühren, oder ein Haar von feinem Esel erbeu¬ 
ten konnte, hielt sich für glücklich. Bald sprach das ganze Land nur von ihm. 
Weit und breit lief man herbei, ihn zu sehen, und wem dies nicht möglich 
war, der ließ sich wenigstens von ihm erzählen. Eine unbezähmbare Sehn¬ 
sucht hatte Alle ergriffen, nach Jerusalem zu ziehen und Streiter Christi zu 
werden. 
Der Papst freute sich dieser Stimmung sehr; solche Wirkung hatte er 
selbst nicht erwartet. Er eilte, sie zu benutzen, und schrieb für den ersten 
März 1095 eine Kirchenversammlnng ans, die in Pia een za in Ober-Italien 
gehalten wurde. Er selbst wohnte ihr bei, und die Menge der Zuströmenden 
— man schätzte sie gegen 40,000 — war so groß, daß kein Gebäude sie zu 
fassen vermochte, und die Sitzungen aus freiem Felde gehalten werden mußten. 
Auch griechische Gesandte erschienen hier, und unterstützten die Angelegenheit 
durch ihre Bitten. Als der Papst seine Rede geendigt hatte, riesen Alle freudig 
aus: „Ja, ja! wir müssen uns erheben! Wir müssen die Fesseln der gedrückten 
Christenheit sprengen!" 
Noch in demselben Jahre, im November, hielt Urban eine zweite Ver¬ 
sammlung, in Clermont, einer Stadt in der Mitte von Frankreich. Zahl¬ 
lose Schaaren strömten herbei, die Worte Urbans und Kukupeters zu ver¬ 
nehmen. Der ganze große Platz war dicht mit Menschen bedeckt; in der 
Mitte sah man ein hohes Gerüst, aus diesem den für den Papst errichteten 
Thron. Zuerst trat Peter auf. Eine tiefe Stille zeigte die Aufmerksamkeit, 
mit welcher man aus jedes seiner Worte lauschte. Seine Rede ergoß sich wie 
ein Feuerstrom; mit solcher Kraft hatte er noch nie geredet; die Zuhörer 
schauderten bei der Schilderung der Martern, welche die Christen von den 
Ungläubigen anszustehen hätten, und heiße Thränen entquollen ihren Augen. 
Jetzt schwieg Peter; Urban trat aus mit dem ganzen Pomp der päpstlichen 
Würde, und hielt eine Rede, welche alle Zuhörer lies erschütterte. Sie ist 
uns aufbehalten worden. „Ich werde sie nicht trocknen, diese Thränen," so 
begann er, „welche diese schrecklichen Bilder in unsere Augen locken. Lasset 
uns weinen, meine Brüder! Lasset euren Wehklagen freien Laus! Aber wehe 
uns, wenn wir nichts als diese Thränen hätten, wenn wir den Gedanken er¬ 
tragen könnten, das Erbe des Herrn noch länger in den Händen der Ruch¬ 
losigkeit zu lassen. Jenes Land, das wir mit Recht das heilige nennen; jener 
Hügel, wo er für uns blutete; jenes Grab, von dannen er als Sieger des 
Todes hervorging; jener Berg des Friedens, von dem er sich in den Himmel 
emporhob; jene heiligen Mauern, welche die Versammlung der Apostel in sich 
geschlossen, und deren Bezirk das kostbare Blut der seligen Märtyrer getrunken 
hat; — alle, alle diese Gegenstände unsrer Verehrungen, wollen wir sie, ein 
feiges, verworfnes Volk, noch langer der Barbarei, der Ruchlosigkeit und der 
Uneinigkeit zum Raube überlassen? Von Zion ging das Wort des Herrn aus!
	        
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