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Die Belagerung hatte nun schon 8 Monate gedauert; noch war kein
Ende derselben abzusehen, und die Nachricht, daß ein großes feindliches Heer
zum Entsätze der Stadt im Anmarsche sei, erschreckte den Grafen Stephan
von Blois so sehr, daß er augenblicklich wieder nach Europa umkehrte.
Da wurde die Einnahme der Stadt plötzlich durch Bohemund bewirkt. Dieser
ländersüchtige und ehrgeizige Mann sah mit Neid, wie Balduin bereits ein
Fürstenthum besaß, und wünschte sich auch eins zu erobern. Er hatte sich
dazu Antiochien ausersehen. Zu dem Zwecke trat er mit einigen der vor¬
nehmsten Einwohner in heimliche Unterhandlungen, besonders mit einem ar¬
menischen Renegaten Phiruz, der sich bereit erklärte, gegen eine Belohnung
einen Hauptthurm der Mauer, in welchem er den Befehl führte, in Bohe-
munds Hände zu liefern. Dieser trat eines Tages in die Versammlung der
Fürsten, eröffnete ihnen, daß durch seine Vermittelung die Stadt eingenommen
werden könnte, wenn man ihm Antiochien als Fürstenthum verspräche. An¬
fangs wurde der Antrag, besonders von Raimund, mit Unwillen verworfen;
da aber die Nachricht einging, daß jenes Entsatzheer nur noch 7 Tagereisen
entfernt sei, willigte man ein. In einer dunkeln Nacht ließ Phiruz einen
Hansen Kreuzfahrer aus einer Strickleiter einsteigen; Bohemund selbst war
der" erste aus der Mauer. Noch während der Nacht wurden mehrere Thürme
genommen, und ganze Haufen von Kriegern heimlich eingelassen, so daß beim
Anbruche des Tages die Seldschucken mit Schrecken die Stadt in den Händen
ihrer Feinde sahen. Nun begann ein gräßliches Gemetzel. Weder Greise,
noch Weiber, noch Kinder wurden verschont; das Blut rann in den Straßen;
10,000 Sarazenen wurden erschlagen. Die Christen jauchzten, aber das
Elend kam nach. Denn schon am dritten Tage nach der Einnahme zeigte
sich ein furchtbares Heer Sarazenen, welche Kerboga, der seldschuckische
Sultan von Mosnl, und andere Emire gesammelt hatten, und Antiochia wurde
so schnell von ihnen umringt, daß die Kreuzfahrer keine Zeit hatten, die aus¬
gehungerte Stadt mit Lebensmitteln zu versehen. Nun entstand hier eine so
fürchterliche Hungersnoth, daß keine Worte das Elend zu beschreiben ver¬
mögen. Man aß Pferde, Kameele, Esel, Ratten und Mäuse, und da auch
diese endlich nicht mehr für schweres Geld zu haben waren, nagte man an
Thierhäuten, an Schuhriemen und an Baumrinde. Ja Manche stiegen, von
wüthendem Hunger gepeinigt, in die Grüfte hinab, wühlten die kürzlich beer¬
digten Leichen der Türken ans, und hielten von den halbverwesten Gliedern
schauderhafte Mahlzeiten Gottfried selbst hatte kein Pferd mehr, auch kein
Geld, ein neues zu kaufen, und Graf Robert von Flandern schlich umher,
und bettelte um ein Stückchen Brot. Viele starben des elendesten Hunger¬
todes, und die noch Lebenden schwankten wie Leichen umher. Die Noch war
so gränzenlos, daß nur durch ein Wunder Rettung möglich schien, und Jeder
überließ sich der hoffnungslosesten Verzweiflung.
Allein plötzlich sah man das Volk wie neu belebt sich erheben, und
schaarenweise zu den Kirchen strömen, welche die Menge kaum zu fassen ver¬
mochten. Alle drängten sich bußfertig zu den Beichtstühlen, um ihre Sünden
zu bekennen, und Lossprechung zu erflehen. Was war die Ursache dieser so
plötzlichen Veränderung? — Ein Priester, Namens Stephan, war vor die
Fürsten getreten, und hatte ausgesagt: als er die letztvergangene Nacht vor