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Lager zurück. Als die Kreuzfahrer seine Erzählung vernommen hatten, er¬
griff sie eine solche Sehnsucht, auch die heilige Stadt zu schauen, daß sie
rastlos vorwärts eilten. Endlich erreichten sie den Gipfel eines Berges. Da
lag sie vor ihnen, vom Glanze der Abendsonne erhellt, die langersehnte Stadt,
das Ziel aller ihrer heißesten Wünsche. Alle sielen auf die Kniee, küßten den
Boden, und weinten Thränen der Freude und der Wehmuth. Solcher Ge¬
nuß ließ sie alle ausgestandene Leiden vergessen, und schon glaubten sie das
Ende aller Mühseligkeiten erreicht zu haben.
Aber darin irrten sie sich sehr; denn Jerusalem liegt auf zwei steilen
Bergen, war mit einer doppelten Mauer und vielen Vorräthen versehen,
und hatte eine starke und muthige Besatzung von etwa 40,000 Mann. Das
Heer der Kreuzfahrer war ungemein geschmolzen; man zählte nur noch 20,000
rüstige Fußgänger, und von den '100,000 Pferden, die bei Constantinopel
versammelt gewesen waren, sah man nur noch 1500! Mit mehr Muth als
Ueberlegung rannten die Kreuzfahrer schon am fünften Tage gegen die äußere
Mauer an, erkletterten sie auch, wurden aber mit blutigen Köpfen wieder
herabgeworfen, und sahen nun wohl ein, daß ohne Belagerungsmaschinen
nichts zu machen sei. Nun zerstreuten sie sich in der Umgegend, und brach¬
ten mit großer Mühe aus der holzarmen Gegend die nöthigsten Baumstämme
zusammen. Von der schweren Arbeit der Kreuzfahrer, der drückenden Hitze,
dem Mangel an Trinkwasser und den häufigen blutigen Gefechten mit den
Sarazenen hier kein Wort. Die Leiden der Kreuzfahrer waren unaussprech¬
lich; aber die Hoffnung, bald in Jerusalem einzuziehen, ließ sie alle Be¬
schwerden willig ertragen. Endlich hatte man zwei Belagerungsthürme vollen¬
det. Sie waren vierseitig, mit starken Brettern beschlagen, durch Thierhäute
gegen das Feuer gesichert, und hatten vorn eine Art von Zugbrücke, welche
man auf die Mauer der Stadt herablassen wollte, um den Kriegern den
Weg dahin zu bahnen. Unten hatten sie Räder, um der Mauer genähert
werden zu können.
Nun waren die Vorbereitungen zum Angriff fertig. Zuvor aber wollte
man mit Recht den Beistand des Himmels erflehen. Alle legten die beste
Rüstung an, die Priester, weiß gekleidet und Kreuze tragend, zogen voran,
und so bewegte sich der Zug langsam und feierlich um die Stadt herum,
um am Oelberge zu beten. Die Sarazenen wußten nicht die Bedeutung die¬
ser Prozession; sie verhöhnten sie von den Mauern herab, äfften ihre heiligen
Gebräuche nach, und warfen mit Steinen und Pfeilen nach ihnen, ein /
Spott, der ihnen bald darauf theuer zu stehen kam. Die folgende Nacht
brachten die Kreuzfahrer mit Gebeten und Bnßübungen zu; Keiner wußte,
ob er den nächsten Abend erleben werde.
So brach der zum Sturm bestimmte Tag, der 14. Jul. 1099, an.
Mit unvergleichlicher Tapferkeit griffen die Pilger die Mauern an; aber die
Sarazenen schleuderten Steine, Balken, brennenden Schwefel und siedendes
Oel auf ihre Köpfe herab, und kaum konnte man die hölzernen Thürme vor
ihren Brandpfeilen schützen. So kam der Abend heran; ermattet mußten
sich die Christen zurückziehen; alles Blut, aller Schweiß war vergebens ver¬
ronnen, und nur ein Umstand tröstete sie, daß den Feinden nicht gelungen