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Vorwürfe, daß sie den Doktor gerufen habe, den sie doch nicht be¬
zahlen könne. Dieser flüsterte dem Diener, der ihm gefolgt war, ein
paar Worte zu und wandte sich dann mit der Frage an die Frau: „Haben
Sie denn keine menschliche Seele, die für Sie sorgt?" — „Niemand,"
jammerte die Frau; „meine Wirtsleute, die mir gern helfen möchten,
sind selber arm. Solange mein Mann noch lebte, ging es uns ganz leid¬
lich; mit seinem Tode aber kam das Unglück über uns. Ich habe Tag
und Nacht gearbeitet, aber dann kam meine schwere Krankheit und
brachte Not und Elend über uns."
3. Der fremde Herr hatte inzwischen dem Mädchen ein Geldstück
in die Hand gedrückt mit der Weisung, Wein und Brot zu holen. Mit
freudestrahlendem Antlitz war die Kleine, so schnell sie konnte, wieder¬
gekommen; tränenerfüllten Auges dankte die arme Frau dem edlen
Menschenfreunde. „Lohne Ihnen Gott Ihre Tat," sagte sie, „ich
kann’s nicht."
4. In demselben Augenblicke trat ein Arzt ein, den der Diener
in aller Eile herbeigeholt hatte. Er erkannte sofort den Kronprinzen
und verneigte sich tief. Während er sich mit der Kranken zu schaffen
machte, zog der Kronprinz eine beträchtliche Kassenanweisung aus
seiner Brieftasche, legte sie auf den Tisch und verschwand, ohne daß
ihm die Frau ihren Dank abzustatten vermochte. „Wer war der edle
Fremde?" fragte die Frau erstaunt, als sie das Geld erblickte, „ich
hatte ihn für einen Arzt gehalten." — „Der Arzt, der Ihnen eine so
kostbare Medizin verschrieben hat, war der Kronprinz von Preußen!"
sagte der Arzt, und mit einem innigen Blick zu Gott, dem Helfer in der
Not, verrichtete die Frau ein stilles Gebet für den edlen Wohltäter.
Hermann Müller-Bohn.
e) Kindermund.
Der Lehrer sprach von „Unserm Fritz"
und lobte dessen Iferz und Witz.
„Er ist ein gar leutseliger speit);
seinesgleichen lebt nicht auf der Welt.
5 Nun, Hungens, sagt mir, ob ihr auch wißt,
warum unser Kronprinz leutselig ist?"
Die ganze Klasse saß blöde und faul,
und jeder hielt verblüfft das Maul.