Full text: Geschichte des Mittelalters (Theil 2)

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gürtete seinen von Hnnger und Mühseligkeiten aller Art abge¬ 
zehrten Leib mit einem Stricke, nahm ein Crucifix in die Hand 
und ritt von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, wie ihm der 
h. Vater geboten hatte. Wo er einen Haufen Menschen um 
sich sah, hielt er seiuen Esel an, hob das Crucifix in die Höhe 
und schilderte mit funkelnden Augen und hinreißender Beredt- 
samkeit die Noth der christlichen Brüder im heiligen Lande. 
Cr erzählte ihnen, wie er in der Stille der Nacht vor seiner 
Abreise nach dem heiligen Grabe gewandert sei. Dort habe er, 
umweht von den Schauern der geweihten Stätte, mit heißer 
Inbrunst stundenlang knieend gebetet und sei endlich vom Schlum¬ 
mer überfallen worden. Da sei ihm im Traume der Erlöser 
erschienen: „Eile," habe er gesprochen, „eile in deine Hei- 
math und wecke die Gläubigen zur Reinigung der heiligen 
Orte; ihnen allen, die da gehorchen, sollen die Pforten des Pa¬ 
radieses offen stehen." Da sei er aufgesprungen, noch in der 
Morgendämmerung ans Jerusalem geeilt und stehe jetzt hier 
als Gesandter des Herrn. „Auf, ihr Christen," rief er dann 
mit funkelnden Augen, „auf, der Heiland selbst ruft euch! 
Wie, und ihr wollet nicht folgen? Er öffnet euch selbst die 
Thore des Paradieses, und ihr wollet nicht hineingehen? Das 
heilige Grab, der Oelberg, die Höhle zu Bethlehem und die 
anderen geheiligten Stätten, sie alle rufen euch zu: „Kommet, 
o kommet und rettet uns aus den Händen der Barbaren!" 
Ihr seid erkoren vom Heilande selbst, seine heilige Stadt zu 
befreien. Ich selbst habe oft gehört, wie die geweihten Orte 
tief erseufzten; wie ans allen Winkeln der Weheruf erscholl: 
„Rettet, ach rettet uns!" — und ihr wollet noch zaudern, ihr, 
die erkorenen Werkzeuge des Herrn?" — Solche Worte ent¬ 
stammten und erfüllten Aller Herzen mit heiligem Grimme gegew 
die Muselmänner. Ueberall ging sein Ruf vor ihm her. Vow 
allen Seiten strömten die Menschen zusammen, um seine Worte 
zu hören. Sein Zug durch Frankreich und Italien glich einer 
ununterbrochenen Prozession. Wie ein Bote des Himmels ward 
- er überall empfangen und verehrt.
	        
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