Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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glaubten, abzunehmen und die Lücken ihres schlotterigen Daseins damit zu stopfen? 
Ich atmete auf, als ich den Leidenturm sah, dessen nackte, plumpe Gestalt sich drohend 
gegen den Limmel stemmte, der sich wie eine schwarze, zum Bersten schwere Lawine 
langsam herunterließ. In dem Augenblick, als ich in die enge, ummauerte Gasse 
einbog, fuhr der Sturm los, als hätte er sich an dieser Ecke verborgen gehalten, um 
mich zu überfallen. Nun sauste er wie ein furchtbarer Vogel Rock dicht über mir 
mit gedämpftem Brüllen, zuweilen mit zottiger Klaue meine Laare oder meine Schulter 
streifend. Erst als ich ganz unten in der Stadt war, blieb das Antier zurück, als 
dürfe es den geweihten Ring, der mich nun aufnahm, nicht berühren; aber bis an 
den Morgen hörte man von oben her das unheilvolle Gebrüll und die zornigen 
Flügelschläge, vor denen die Luft sich stöhnend zwischen den Läusern verkroch. 
Der Erzähler lernt die Verhältnisse der Armen und Elenden, die in der Triumph¬ 
gasse wohnen, ihre Schmerzen, aber auch ihre Freuden, ihren Aberglauben, aber auch ihre 
Anhänglichkeit an die Kirche und den Geistlichen genau kennen. Besonders interessiert ihn 
das Schicksal der Familie der alten Farfalla und des Priesters Iurewitsch, der Schande 
an seinen Geschwistern erlebt. Seine innigste Neigung gehört dem armen Krüppel Riccardo, 
dessen Leben, Träume, Leiden und Tod uns die Dichterin enthüllt. 
¡1. Gedichte. 
Aus dem 30jährigen Kriege. 
1. 
Wiegenlied. 
Lorch, Kind, horch, der Sturmwind weht 
And rüttelt am Erker! 
Wenn der Braunschweiger draußen steht, 
Der saßt uns noch stärker. 
Lerne beten, Kind, und falten sein die Länd', 
Damit Gott den tollen Christian von uns wend'! 
Schlaf, Kind, schlaf, es ist Schlafens Zeit, 
Ist Zeit auch zum Sterben. 
Bist du groß, wird dich weit und breit 
Die Trommel anwerben. 
Lauf ihr nach, mein Kind, hör deiner Mutter 
Rat; 
Fällst du in der Schlacht, so würgt dich kein 
Soldat. 
„Lerr Soldat, tu mir nichts zuleid. 
And laß mir mein Leben!" 
„Lerzog Christian führt uns zum Streit, 
Kann kein Pardon geben. 
Lassen muß der Bauer sein Gut und Lab, 
Zahle nicht mit Geld, nur mit dem kühlen Grab." 
Schlaf, Kind, schlaf, werde stark und groß. 
Die Jahre, sie rollen; 
Folgst bald selber auf stolzem Roß 
Lerzog Christian dem Tollen. 
Wie erschrickt der Pfaff und wirft sich auf 
die Knie — 
„Für den Bauer nicht Pardon, den Pfaffen 
aber nie!" 
Still, Kind, still! Wenn Lerr Christian 
kommt, 
Der lehrt dich zu schweigen! 
Sei fein still, bis dir selber frommt, 
Ein Roß zu besteigen. 
Sei fein still, dann bringt der Vater bald 
dir Brot, 
Wenn nach Rauch der Wind nicht schmeckt 
und nicht der Limmel rot. 
3. 
Frieden. 
Von dem Turme im Dorfe klingt 
Ein süßes Geläute; 
Man sinnt, was es deute. 
Daß die Glocke im Sturme nicht schwingt. 
Mich dünkt, so hört' ich's als Kind; 
Dann kamen die Jahre der Schande; 
Run trägt's in die Weite der Wind, 
Daß Frieden im Lande. 
Wo mein Vaterhaus fest einst stand. 
Wächst wuchernde Leide; 
Ich pflück', eh' ich scheide. 
Einen Zweig mir mit zitternder Land. 
Das ist von der Väter Gut 
Mein einziges Erbe; 
Nichts bleibt, wo mein Laupt sich ruht. 
Bis einsam ich sterbe.
	        
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