Object: Deutsches Lesebuch für Volksschulen

IV 
wollen Neuerthümer werden; das Erbe unserer Väter will zum Nutzen 
der Enkel verwandt sein, die versunkenen endlich erlösten Schätze 
unserer Vorzeit dürfen wir keiner zweiten Verwünschung anheim fallen 
lassen; wir müssen sie ummünzen oder doch vom Rost befreit von 
neuem in Umlauf setzen. Mit dem Hervorziehen unserer alten Poesie 
ist es nicht gethan. Aus dem Schutte der Jahrhunderte in den 
Staub der Bibliotheken, das ist ein Schritt aus einer Vergessenheit 
in die andere. Dem Ziele führt es nicht merklich näher. Dieses 
Ziel ist das Herz der Nation: Wenn da einst unsere alte 
Dichtung ihre Stätte wiederfindet, dann ist Dornrös¬ 
chen aus dem Zauberschlaf erweckt, dann schlägt der 
dürre Baum auf dem Walserfeld wieder aus, dann 
hängt der alteKaiser seinen Schild an den grünen Ast, 
dann wird die Schlacht geschlagen, die auch die letzte 
unserer verlornen Provinzen an Deutschland zurück¬ 
bringt. 
Wie die Weltesche aus dem Brunnen der Urd, der ältesten Norne, 
begossen wird, damit ihre Seiten nicht dorren und faulen, so muß 
das Volksleben aus dem Borne der Vergangenheit 
erfrischt werden, aus dem Strome der Überlieferung, 
der aus der Vorzeit herfließt. DieGeschichte muß dem 
Volk, wenn auch nur in Gestalt derSage, gegenwärtig 
bleiben, wenn es nicht vor der Zeit altern soll." 
Treffend sagt auch A. Richter in der Einleitung zu seinen 
„Deutschen Heldensagen des Mittelalters": 
„Neben den Großthaten des deutschen Volkes in 
unsererZeit ist nichts so geeignet, eine echt deutsche in 
ihren Grundlagen wie in ihren Zielen gleich fest¬ 
stehende Begeisterung zu schaffen, als die historische 
Bekanntschaft mit dem Geist und Wesen unserer Vor¬ 
zeit. Und nirgend sind die dem deutschen Geiste von 
jeher nachgerühmten Tugenden bestimmter und an¬ 
schaulicher ausgeprägt, als in den von dem dichteri¬ 
schen Volksgeiste selbstgeschaffenen Sagen unseres 
Volkes." „Was in ihnen lebt und pulsieret," schreibt Fr. 
Pfeifer, „ist Fleisch von unserm Fleische und Blut von 
unserm Blute." 
Die hohe Bedeutung der Geschichte für religiös-sittliche Charakter¬ 
bildung und Erweckung nationalen Sinnes braucht nicht bewiesen zu 
werden. Ich erinnere nur, daß der große deutsche Staatsmann Stein 
die Geschichte für das vorzüglichste Mittel zur Erweckung eines edlen, 
kräftigen, tüchtigen Sinnes hielt. „D e r E i n f l u ß d e r G e s ch i ch te", 
schrieb er an den Erzieher der Kinder seines Schwagers,;„ist wohl¬ 
thätig für ein junges Gemüth, wenn sie gründlich,
	        
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