Orakel und Mysterien.
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Aberglaube nicht in Versuchung käme, dort heidnische Ceremonieen vor¬
zunehmen oder den Teufel zu beschwören, der nach dem Glauben vieler
Christen als griechischer Apollo gewirkt hatte.
„Ihr Griechen seid immer Kinder", sagte ein ägyptischer Priester
zu Herodot, als dieser auch nach Aegypten gekommen war. Ihr Götter¬
glaube war wirklich ein sehr jugendlicher und heiterer; denn das gereifrere
Nachdenken hätte sie zu der Frage führen müssen: Woher kommt denn
die ganze Welt, woher kommen die Götter selbst? was wird aus der Welt,
den Göttern und den Menschen einst werden? Auf diese Fragen über die
Entstehung aller Dinge, über die Herkunft der Götter, über die Be¬
stimmung des Menschen, über Belohnung und Strafe jenseits des Grabes
haben, wie es scheint, Mysterien Antwort gegeben. Sie waren geheime
Götterfeste, und wer daran Theil nehmen wollte, mußte sich verschiedenen
Weihen unterziehen. Die Feier war ernster als bei allen andern Festen,
und bestand aus sehr vielen Ceremonieen, Gesängen und Gebeten. Die
Sprache selbst war dunkel, selbst unverständlich, wie einige uns erhaltene
Gebetformeln beweisen. Die Mysterien widersprachen übrigens dem
hellenischen Volksglauben nicht (am wenigsten lehrten sie den Glauben
an Einen Gott, wie man wohl schon behauptet hat), sondern ergänzten
denselben vielmehr. Solche geheime Götlerfeste wurden in Samothrake
und in Eleusis bei Athen gefeiert, ohne Zweifel Ueberreste aus der Zeit
der Pelasger, nun aber von den Hellenen selbst in hoher Verehrung
gehalten, und cs fanden sich aus allen Gegenden Männer ein, in denen
sich die Sehnsucht nach tieferer Erkenntniß regte. So lehnte sich im
eigentlichen Griechenland dies Streben und Ringen nach Wahrheit (dies
war es, wenn es auch nicht zum Ziele führen konnte) an das Vermächt-
niß vorhellenischer Zeit, an pelasgischen Glauben und Dienst an; so
kamen die Hellenen andererseits, besonders die in Kleinasien, mit andern
Völkern in Berührung, welche einen ganz andern Götterdienst hatten,
und mit Priestern, welche über die Götter und die Welt und ihr Ver-
hältniß zu den Menschen tief ausgedachte Lehren mittheilten. Der hel¬
lenische Geist wurde durch diese Mittheilungen zum Forschen angeregt
und darum treffen wir in Asien zuerst jene Philosophen, welche es kühn
unternahmen, das Räthsel aufzulösen, woher die körperliche Welt ihr
Dasein habe, was ihre Ordnung im Wechsel bewahre, wie der Geist
sich zu dem materiellen Stoffe verhalte u. s. w. Sie stellten darüber
die verschiedensten Meinungen auf, entwickelten eine erstaunliche Schärfe
des Verstandes und einen hohen Schwung der Phantasie, konnten aber
aus begreiflichen Gründen nicht zur Wahrheit durchdringen. Doch zogen
diese Philosophen (die bedeutendsten Namen werden wir an einem an¬
dern Orte nennen) die Aufmerksamkeit der lebhaften Hellenen in hohem
Grade auf sich und es entstand ein geistiger Verkehr zwischen dem