194 Das heilige römische Reich deutscher Nation.
beachtet würden, sondern Fürsten und Völker riefen seine Vermittlung
oder seinen Schutz an, und machten ihn dadurch zum höchsten Tribunal,
zum Friedensrichter der Christenheit. Neben ihm stand der Kaiser, dem
mit der Krone das Schutzrecht über die Kirche übertragen wurde; ihn
anerkannte die Christenheit als ihren ersten Fürsten, von ihm erwartete
sie, daß er die Bösen strafe, die Gewaltthätigen Niederschlage, die Em¬
pörer gegen das christliche Gesetz zum Gehorsam zwinge und das Panner
der Christenheit emporhalte gegen die Feinde ihres Namens. Der ge¬
fährlichste dieser Feinde war der Islam, denn Todfeindschaft gegen das
Christenthum war und ist sein erstes Gebot; mit dem Schwerte hatte er
es in Asien und Afrika vertilgt und bedrohte es von Osten und Westen
in Europa; da erhob sich das christliche Europa wie ein Mann und be¬
stand einen Kampf, der hinsichtlich seiner Dauer und Streiterzahl seines
Gleichen noch nie hatte. Doch triumphierte das Kreuz nicht vollständig
über den Halbmond; der Entscheidungskampf wurde vielmehr den Nach¬
kommen als ein Erbtheil hinterlassen. Durch Papst und Kaiser eine
feste Ordnung der christlichen Staaten zu begründen gelang auch nicht;
denn die beiden Mächtigen entzweiten sich, der Kaiser unterlag mit sei¬
nen Ansprüchen, seine Nachfolger erbten wohl seinen Namen, aber we¬
nig von seiner Macht, und das Papstthum mußte so gewaltige Anstren¬
gungen machen, daß es obwohl siegreich doch geschwächt aus dem großen
Kampfe hervorging und die Stellung nicht mehr behaupten konnte, welche
ihm seine großartige Wirksamkeit bei dem Aufbau des germanisch-christ¬
lichen Staatenspstems angewiesen hatte. Doch trug Europas Ringen
nach höherer Einigung seines Völkerlebens, sein Heldenkampf mit dem
Islam reichen Lohn; erreichte es auch das angestrebte Ziel nicht, so
brachte die Entfaltung aller besseren Kräfte so manches andere Treffliche,
das man früher nicht geahnt hatte. Ein allgemeiner Aufschwung hob
Nationen und einzelne Stände, ein vorher nicht gekannter Verkehr ver¬
breitete besonders in den Städten Reichthum und Bildung, die Isolie¬
rung der Nationen hörte auf, Wissenschaft und Kunst bauten gemein¬
schaftliche Herde, so daß eine europäische Kunst und Literatur auf¬
blühte. Es war in jener Zeit ein reiches und bewegtes Leben, und
wir sehen überall in allen Kreisen eine Kraftfülle schaffen und walten,
die uns ganz wunderbar erscheint. Damit ist nicht gesagt, daß damals
alles schön und gut gewesen sei; die Leidenschaften trieben damals ihr
Spiel wie zu jeder Zeit und um so verderblicher, weil jenes Zeitalter
so kräftige, Willensstärke und thatenlustige Menschen hegte; ein heißer
Sommer ist ein fruchtbarer, aber auch gewitterreicher, und je höher ein
Baum ist, um so weiter wirft er seinen Schatten.