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zunächst die Absicht hatte, in der reiferen Jugend Sinn und Interesse für
die wahre Geschichte zu wecken und eine gewisse Begeisterung für das
Große aller Zeiten zu erzeugen, so, dachte ich, könnte das vorliegende
Werk durch zweckmäßige Umgestaltung dazu dienen, bei der weiblichen Ju¬
gend für die Geschichte mehr Theilnahme zu erregen und somit auch in
den Töchterschulen und Mädcheninstituten dem historischen Unterrichte eine
größere Bedeutung und eine breitere Unterlage zu erwerben. Denn welche
solidere Grundlage könnte für die weibliche Bildung gefunden werden, als
eine umfassende Gesckichtskunde? Wo die Geschichte den Boden und Rah¬
men bildet für das weltliche Wissen und das praktische Urtheil, da wird
keine Verschrobenheit und Verkehrtheit Platz greifen, und die verderbliche Lek¬
türe, die in späteren Jahren so häufig die mühsam gepflegte Saat mit
Unkraut durchzieht, wird nicht so viele lockere Stellen finden zum Ein¬
schlagen ihrer Fasern und Wurzeln. Bei der weiblichen Erziehung fehlt
der solide klassische Boden, welcher der männlichen einen festeren Halt ver¬
leiht; die neueren Sprachen gereichen nur zum Schmucke und geben dem
Geiste nur Gewandtheit und äußere Zierde, aber sie ermangeln der ethi¬
schen Kraft und der sittlichen Tiefe, um als Fundament zu dieuen. Eine
solche feste Grundlage kann nur neben der Religion die Geschichte und
die Literatur in ihren edlen Erzeugnissen gewähren. Um aber diese
Bestimmung zu erfüllen, muß sowohl die Geschichte, als die ihr angehö¬
rende Literatur in einer Weise behandelt werden, daß der jugendliche Geist
nicht nur daran erstarke und Belehrung aus ihr schöpfe, sondern daß er
sich auch durch die Darstellung und die Wahl des Stoffes gefesselt und
angeregt fühle. Ein geschichtliches Lehr- und Lesebuch für die weibliche
Jugend muß daher vor Allem die poetische Seite der Weltgeschichte hervor¬
kehren, muß auf das Große und Erhabene im Völkerleben Hinweisen, muß
die himmlische Schönheit der Schöpfungen des ewigen Geistes, die sich in der
äußeren Natur wie in der moralischen Weltordnung, in den Planeten¬
bahnen wie im Kreisläufe der Kultur offenbart, erkennen oder doch ahnen
lassen. Soll die Geschichte belehrend und veredelnd wirken, so muß sie
das ruhige Walten einer ewigen Macht über allem Irdischen und Ver¬
gänglichen andeuten; sie muß kund thun, wie selbst auf dem Wege des
Unterganges und der Zerstörung stets neues Leben erblühe und wie bei
aller Willkür, Zufälligkeit und Leidenschaftlichkeit im Einzelnen dennoch
die Herrschaft des Geistes über die Materie und die Verminderung und
Vernichtung des Bösen Endziel und höchster Zweck aller menschlichen