Full text: [Geschichte des Alterthums] (Theil 1)

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Poesien. Die Dichter wimmelten daselbst wie in Tharsos und Alexandria. 
Poetische Veröffentlichungen waren zur stehenden Jugendsünde regerer Na¬ 
turen geworden und auch damals pries man denjenigen glücklich, dessen 
Jugeudgedichte die mitleidige Vergessenheit der Kritik entzog. Wer das 
Handwerk verstand, schrieb ohne Anstand aus einem Sitze fünfhundert 
Hexameter nieder, an denen kein Schulmeister etwas zu tadeln, freilich 
auch kein Leser etwas zu loben fand. Auch die Frauenwelt betheiligte 
sich lebhaft an diesem literarischen Verkehr. Die Damen beschränkten sich 
nicht mehr auf Tanz und Musik, sondern beherrschten durch Geist und 
Witz die Konversation und sprachen vortrefflich über griechische und latei¬ 
nische Literatur. Die Rythmen wurden immer mehr das elegante Spiel¬ 
zeug der großen Kinder beiderlei Geschlechts; poetische Billets, gemein¬ 
same poetische Uebungen und Wettdichtungen unter guten Freunden waren 
etwas Gewöhnliches. In Folge des starken Bücherverbrauchs wurde die Technik 
des fabrikmäßigen Abschreibens wesentlich vervollkommnet und die Veröffent¬ 
lichung verhältnißmäßig rasch und wohlfeil bewirkt. Der Buchhandel war ein 
angesehenes und einträgliches Gewerbe und der Laden des Buchhändlers 
ein gewöhnlicher Versammlungsort gebildeter Männer. Das Lesen war 
zur Mode, ja zur Manie geworden. Bei Tafel ward regelmäßig vorge¬ 
lesen und wer eine Reise vor hatte, vergaß nicht leicht eine Reisebibliothek 
einzupacken n. s. w." Man sieht aus diesem Bilde, daß das alte Sprüch- 
wort: „Es giebt unter der Sonne nichts Neues," auch diesmal in seinem 
Rechte bleibt, und zwar mag dies in mancher Beziehung mehr noch und 
tiefer der Fall sein, als sich hier aus dem äußern Anschein ergiebt. 
Gehen wir auf die einzelneu Richtungen der römischen Kultur unseres 
Zeitraums etwas uäher ein, so tritt uns zuerst eine entschiedene Zerrüt¬ 
tung und Auflösung des Religionswesens entgegen. In dem Maaße, 
als die bisherige gültige Volksreligion fremde Bestandtheile in sich auf¬ 
nahm, wie denn die orientalischen Göttergestalten, der persische Mithras, 
die asiatische Göttermutter Cybele, die ägyptische Isis u. a. m. in vollem 
Pomp zu Rom ihren Einzug hielten, in demselben Maaße ging auch die innere 
Zerstörung unaufhaltsam voran. Während das Volk den neuen Einflüssen sich 
zuwandte, herrschte unter der gebildeten Klasse Unglaube, Vernachlässigung, 
Geringschätzung religiöser Dinge, die nicht selten in bitterem Hohn oder in 
schmerzlicher Trostlosigkeit ihren Ausdruck fanden. 
Mit welchen Augen der sinkende Götterglaube damals angesehen ward, 
sprechen die folgenden Verse des Lucretius mit fast schauerlicher Schärfe 
aus. 
„Als darnieder er sah das Dasein liegen der Menschheit 
Jammervoll auf der Erd', erdrückt von der lastenden Gottfnrcht, 
Die vom Himmelsgewötb' herab, ihr A»tlitz offenbarend, 
Schauerlich anzusehen, hinab auf die Sterblichen drohte, 
Wagt' es ein griechischer Mann zuerst, das sterbliche Auge 
Ihr entgegen zu heben, zuerst ihr entgegen zn treten;
	        
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