Full text: Mit einem Stahlstich (Bd. 1)

21. Goethe. 
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das Volk von warmer Leidenschaft kann nnr Leidenschaft dichten, wie 
das Volk unter schrecklichen Gegenständen sich auch schreckliche Götter 
dichtet. Eine Sammlung solcher Lieder aus dem Munde eines jeden 
Volkes über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen seines Lebens, 
in eigener Sprache, gehörig verstanden, erklärt und mit Musik begleitet, 
wie wurde sie die Artikel beleben, auf die der Menschenkenner bei allen 
Reisebeschreibungen doch immer am begierigsten ist, die Artikel von der 
Denkart und den Sitten der Nation, von ihrer Wissenschaft und Sprache, 
von Spiel und Tanz, Musik und Götterlehre. Wie die Naturgeschichte 
Kräuter und Tiere beschreibt, so schilderten sich hier die Völker selbst. 
Man bekäme von allem anschauenden Begriff; und durch die Ähnlichkeit 
oder Abweichung dieser Lieder an Sprache, Inhalt und Tönen und 
insonderheit in Ideen der Kosmogonie und der Geschichte ihrer Väter 
ließe sich auf die Abstammung, Fortpflanzung und Vermischung der 
Völker wie viel und wie sicher schließen!" Und Herder ist es gewesen, 
welcher, so lückenhaft seine Kenntnis des einzelnen war, auch die ersten 
Grundlagen zum Aufbau der altdeutschen Philologie gelegt hat, 
wenn anders dieselbe nicht bloß Herausgabe und Kritik der Texte, nicht 
bloß Grammatik, sondern in Wahrheit Wissenschaft des deutschen Altertums 
ist. Es ist auch hier wieder die Abhandlung von der Ähnlichkeit der 
mittelalterlichen englischen und deutschen Dichtung, welche unter der wärm¬ 
sten Anerkennung der spurlos vorübergegangenen Bemühungen Bodmers 
das höchste Ziel dieser neu zu schaffenden deutschen Altertumswissenschaft 
ausstellt, indem sie verlangt, daß eine Geschichte des deutschen Mittelalters 
nicht bloß eine Pathologie des Kopfes, d. h. des Kaisers und einiger 
Reichsstände, sein solle, sondern eine Physiologie des ganzen National¬ 
körpers, der Denkart, Bildung, Sitte und Sprache. Herder setzte mahnend 
hinzu: „Mir ist noch keine Geschichte bekannt, wo die deutsche Feudal¬ 
verfassung recht charakteristisch für Deutschlands Poesie, Sitten und 
Denkart behandelt und in alle Züge nach fremden Ländern verfolgt 
wäre." Sähe Herder die heutige Wissenschaft, freudig würde er in das 
Goethesche Wort einstimmen, daß, was man in der Jugend wünscht, man 
im Alter die Fülle hat. H. Hettner l. 
21. Goethe. 
Goethe hat im geistigen Leben Deutschlands gewirkt, wie eine ge¬ 
waltige Naturerscheinung im physischen gewirkt hätte. Unsere Steinkohlen¬ 
lager erzählen von Zeiten tropischer Wärme, wo Palmen bei uns wuchsen. 
1 Siehe S. 170, Sinnt.
	        
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