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Zu den allgemeinen Ursachen der Unzufriedenheit und Gäh-
rung unter dem Volke kamen noch besondere. Ludwig XVL,
der seit 1774 über Frankreich herrschte und mit Maria An¬
toinette, der Tochter der Kaiserin Maria Theresia vermählt
war, hatte von seinen nächsten Vorgängern in der Negierung,
dem kriegeslustigen Ludwig XIV. und dem schwachen Lud¬
wig XV. eine ungeheure Schuldenlast ererbt, welche sich durch
die Theilnahme am nordamerikanischen Kriege und die Un¬
ordnung im Staatshaushalte so gesteigert hatte, daß der öf¬
fentliche Kredit vollends sank. Der edle König selbst führte
mitten unter den Verschwendungen seines Hofes das einfachste
Leben und suchte dem Volke die Abgaben zu verringern. Da
es ihm aber an Kraft und Strenge fehlte, der Zerrüttung
des Staatswesens entgegenzutreten, so sah er sich endlich ge-
nöthigt, dem Nathe seines berühmten Finanzministers, Necker
aus Genf, zu folgen und die Reichstände, die seit 1614 nicht
versammelt gewesen waren, zu berufen, um mit denselben die
Mittel zu berathen, dem sinkenden Staate wieder aufzuhelfen.
Necker, der die Absicht hatte, das Defizit der Finanzen durch
den Adel und die Geistlichkeit zu decken und dem Bürger¬
stande das Ucbergewicht zu verschaffen, hatte 621 Deputirte
von dem dritten Stande, dem tiers ¿tat, 285 vom Adel und
308 von der Geistlichkeit zu einem Reichstage versammelt, der
zu Versailles, wo seit Ludwig XIV. die königliche Residenz
war, am 5. Mai 1789 feierlich eröffnet wurde. Der König
ahnte nicht, daß er eine Pulvermine anlegte, an der sich ganz
Frankreich zu einem großen Brande entzünden würde.
66. Ausbruch der Revolution (1789).
Sturm dcr Pastille am 14. Juli 1789. — Bevor die ei¬
gentlichen Berathungen anfingen, entstand ein hitziger Streit
über die Frage, ob nach drei Kammern, wie früher, oder
nach Köpfen gestimmt werden solle. Der dritte Stand,
dem eine doppelte Anzahl Deputirter bewilliget war, ver-