Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

33. Lmanuel von Geibel. 
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2. Ich fuhr von St. Goar. 
1. Ich fuhr von Sankt Goar 
den grünen Rhein zu Berge; 
ein Greis im Silberhaar 
war meines Nachens Ferge. 
2. Wir plauderten nicht viel; 
die Felsen sah ich gleiten 
dahin im Wellenspiel 
und dachte vor'ger Zeiten. 
3. Und als wir an der Pfalz 
bei Caub vorüber waren, 
kam Hellen Liederschall's 
ein Schiff zu Thal gefahren. 
4. Ins weiße Segel schien 
der Abend, daß es glühte; 
Studenten saßen drin, 
mit Laub umkränzt die Hüte. 
6. sie streute Rosen rot 
hinunter in die Wogen 
und grüßte, wie im Boot 
wir sacht vorüberzogen. 
7. Und horch, nun unterschied 
das Singen ich der andern: 
Da war's mein eigen Lied, 
ich sang es einst vom Wandern; 
8. ich sang's vor manchem Jahr, 
berauscht vom Maienscheiue, 
da ich gleich jenen war 
Student zu Bonn am Rheine. 
9. Wie seltsam traf's das Ohr 
mir jetzt aus fremdem Munde! 
Ein Heimweh zuckt' empor 
in meines Herzens Grunde. 
5. Da ging von Hand zu Hand 
der Kelch von grünem Glaste; 
das schönste Mägdlein stand 
in golduem Haar am Maste; 
10. Ich lauschte, bis der Klang 
zerfloß in Windesweben; 
doch sah ich drauf noch lang 
das Schifflein glänzend schweben. 
11. Es zog dahin, dahin — 
still saß ich, rückwärts lugend; 
mir war's als führe drin 
von dannen meine Jugend. 
3. Hoffnung. 
1. Und dräut der Winter noch so sehr 
mit trotzigen Gebärden, 
und streut er Eis und Schnee umher, 
es muß doch Frühling werden. 
2. Und drängen die Nebel noch so dicht 
sich vor den Blick der Sonne, 
sie wecket doch mit ihrem Licht 
einmal die Welt zur Wonne. 
3. Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht, 
mir soll darob nicht bangen, 
auf leisen Sohlen über Nacht 
kommt doch der Lenz gegangen. 
4. Da wacht die Erde grünend auf, 
weiß nicht, wie ihr geschehen, 
und lacht in den sonnigen Himmel hinauf 
und möchte vor Lust vergehen. 
5. Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar 
und schmückt sich mit Rosen und Ähren 
und läßt die Brünulein rieseln klar, 
als wären es Freudenzähren. 
6. Drum still! Und wie es frieren mag, 
o Herz, gieb dich zufrieden; 
es ist ein großer Maientag 
der ganzen Welt beschieden. 
7. Und wenn dir oft auch bangt und graut, 
als sei die Hüll' auf Erden, 
nur unverzagt aus Gott vertraut! 
Es muß doch Frühling werden! 
4. Aus dem Walde. 
1. Mit dem alten Förster heut' 
bin ich durch den Wald gegangen, 
während hell im Festgeläut' 
aus dem Dorf die Glocken klangen. 
2. Golden floß ins Laub der Tag, 
Bög'lein sangen Gottes Ehre, 
fast als ob's der ganze Hag 
wüßte, daß es Sonntag wäre. 
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