Full text: Die Geschichte des Mittelalters (Bd. 2)

71. Der Kreuzzug gegen Constantinope. 
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Kaiser Isaak Angelus, welcher den letzten Comnenen Andronicus 
gestürzt und dessen beide Söhne geblendet hatte, wurde nach einer fast 
zehnjährigen, sehr schlechten Regierung, im Juni 1195, durch seinen 
eigenen Bruder Alexius vom Throne gestoßen und ebenfalls geblendet. 
Alexius dem jüngern, dem Sohne des abgesctzten Isaak, gelang es da¬ 
gegen, nach einiger Zeit zu entfliehen und auf einem pisanischcn Schiffe 
Italien zu erreichen. Seine Abgesandten erschienen in Zara und be¬ 
wiesen, daß den Kreuzfahrern, die so Großes und Schwieriges für 
Recht und Gerechtigkeit zu thun gelobt hätten, auch obliege, diese Frevel 
zu bestrafen und den gestürzten Isaak wieder auf den Thron zu setzen. 
Weit entfernt, daß diese Unternehmung ihren Hauptzweck störe, werde 
er dadurch vielmehr erst erreichbar: denn Alexius wolle mit ihnen einen 
Vertrag eingehen, vortheilhaster als je einer in der Welt geschlossen 
worden. Er zahlt, so sprachen jene, 100,000 Mark den Venetianern, 
100.000 den Franken, gibt Lebensmittel für die Zeit des Zuges, sendet 
10.000 Mann auf ein Jahr zur Eroberung Aegyptens, unterhält, so 
lange er lebt, 500 Ritter auf seine Kosten in Syrien und unterwirft 
sein Reich dem römischen Stuhle! 
Sobald diese Anerbietungen im Lager bekannt wurden, erklärten sich 
einige aufs lebhafteste gegen, Dándolo, die Grasen von Flandern, Mont¬ 
serrat, St. Paul und Blois für ihre Annahme. Diese schlossen, aller 
Widersprüche ungeachtet, auf jene Bedingungen mit den Gesandten einen 
Vertrag, nahmen bald nachher Alexius unter großen Ehrenbezeigungen 
im Lager auf und segelten zu Anfang April 1203 nach Corfú, welches 
sich diesem willig unterwarf. Um Pfingsten brachen Alle von Corfú auf 
und erreichten ohne Unfall die Propontis. Jetzt enthüllte sich vor ihren 
Augen jener Wunderreichthum unvergleichbarer Naturschönheiten, welcher 
von jeher selbst Unempfindliche hier tief ergriffen hat: es stieg Con- 
stantinopel allmählich aus den Wellen empor und erhöhte ihr Staunen 
und ihre Bewunderung durch die Pracht seiner Paläste, die Herrlichkeit 
seiner Kirchen, die Zahl seiner Thürme und die Höhe seiner Mauern. 
Unzählige Menschen standen auf den Zinnen, Steine und Pfeile flogen 
selbst bis in die Schiffe, die Ritter aber hatten mit Schilden, Waffen 
und anderen Mitteln eine Art von schützender Mauer um die Verdecke 
gezogen. Sie stellten den jüngeren Alexius auf das Verdeck des ersten 
Schisses der Flotte, segelten dann längs der Mauer Constantinopels 
hin und riesen den am Ufer und auf den Zinnen zahlreich versammelten 
Griechen zu: „Seht hier euren natürlichen Herrn! Verlaßt den Frevler, 
der ihn vertrieben hat! Wir sind nicht gekommen, euch zu bekriegen, 
sondern euch beizustehen; wenn ihr aber gegen Recht, Vernunft und 
Gott handelt, so werden wir euch so viel Böses anthun, als wir irgend 
können." Diesen Aufforderungen ungeachtet trat aber zu allgemeinem 
Erstaunen auch nicht ein einziger Grieche auf die Seite des jüngeren 
Alexius, und so erfuhren die Franken — wie so Viele nach ihnen, daß 
Hoffnungen, von Vertriebenen erregt, sehr selten in Erfüllung gehen. 
Die meisten hatten sich, wie gewöhnlich, in das Bestehende ruhig ge- 
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