71. Der Kreuzzug gegen Constantinope.
339
Kaiser Isaak Angelus, welcher den letzten Comnenen Andronicus
gestürzt und dessen beide Söhne geblendet hatte, wurde nach einer fast
zehnjährigen, sehr schlechten Regierung, im Juni 1195, durch seinen
eigenen Bruder Alexius vom Throne gestoßen und ebenfalls geblendet.
Alexius dem jüngern, dem Sohne des abgesctzten Isaak, gelang es da¬
gegen, nach einiger Zeit zu entfliehen und auf einem pisanischcn Schiffe
Italien zu erreichen. Seine Abgesandten erschienen in Zara und be¬
wiesen, daß den Kreuzfahrern, die so Großes und Schwieriges für
Recht und Gerechtigkeit zu thun gelobt hätten, auch obliege, diese Frevel
zu bestrafen und den gestürzten Isaak wieder auf den Thron zu setzen.
Weit entfernt, daß diese Unternehmung ihren Hauptzweck störe, werde
er dadurch vielmehr erst erreichbar: denn Alexius wolle mit ihnen einen
Vertrag eingehen, vortheilhaster als je einer in der Welt geschlossen
worden. Er zahlt, so sprachen jene, 100,000 Mark den Venetianern,
100.000 den Franken, gibt Lebensmittel für die Zeit des Zuges, sendet
10.000 Mann auf ein Jahr zur Eroberung Aegyptens, unterhält, so
lange er lebt, 500 Ritter auf seine Kosten in Syrien und unterwirft
sein Reich dem römischen Stuhle!
Sobald diese Anerbietungen im Lager bekannt wurden, erklärten sich
einige aufs lebhafteste gegen, Dándolo, die Grasen von Flandern, Mont¬
serrat, St. Paul und Blois für ihre Annahme. Diese schlossen, aller
Widersprüche ungeachtet, auf jene Bedingungen mit den Gesandten einen
Vertrag, nahmen bald nachher Alexius unter großen Ehrenbezeigungen
im Lager auf und segelten zu Anfang April 1203 nach Corfú, welches
sich diesem willig unterwarf. Um Pfingsten brachen Alle von Corfú auf
und erreichten ohne Unfall die Propontis. Jetzt enthüllte sich vor ihren
Augen jener Wunderreichthum unvergleichbarer Naturschönheiten, welcher
von jeher selbst Unempfindliche hier tief ergriffen hat: es stieg Con-
stantinopel allmählich aus den Wellen empor und erhöhte ihr Staunen
und ihre Bewunderung durch die Pracht seiner Paläste, die Herrlichkeit
seiner Kirchen, die Zahl seiner Thürme und die Höhe seiner Mauern.
Unzählige Menschen standen auf den Zinnen, Steine und Pfeile flogen
selbst bis in die Schiffe, die Ritter aber hatten mit Schilden, Waffen
und anderen Mitteln eine Art von schützender Mauer um die Verdecke
gezogen. Sie stellten den jüngeren Alexius auf das Verdeck des ersten
Schisses der Flotte, segelten dann längs der Mauer Constantinopels
hin und riesen den am Ufer und auf den Zinnen zahlreich versammelten
Griechen zu: „Seht hier euren natürlichen Herrn! Verlaßt den Frevler,
der ihn vertrieben hat! Wir sind nicht gekommen, euch zu bekriegen,
sondern euch beizustehen; wenn ihr aber gegen Recht, Vernunft und
Gott handelt, so werden wir euch so viel Böses anthun, als wir irgend
können." Diesen Aufforderungen ungeachtet trat aber zu allgemeinem
Erstaunen auch nicht ein einziger Grieche auf die Seite des jüngeren
Alexius, und so erfuhren die Franken — wie so Viele nach ihnen, daß
Hoffnungen, von Vertriebenen erregt, sehr selten in Erfüllung gehen.
Die meisten hatten sich, wie gewöhnlich, in das Bestehende ruhig ge-
22*