63. Allgemeine Charakteristik der Zeit von 1700—1789. 407
affectiren mußte, erschütterte die Grundfesten der europäischen Staaten,
so weit sie auf christlich-monarchischen oder aristokratisch-hierarchischen
Grundlagen gebaut waren.
In der zweiten Periode ward vollendet, was in der ersten be¬
gonnen war. Die Gewalt sollte überall den Staat erhalten und die
Regierenden scheuten sich nicht, der Sittlichkeit und dem Rechte Ver¬
schlagenheit und Verdorbenheit, wenn sie ihren Zwecken dienten, öffent¬
lich vorzuziehen. Die neue Dynastie in England wie der Regent und
sein Dubois in Frankreich scheuten kein unmoralisches Mittel, das
ihnen nützlich sein konnte, und rühmten dieses Verfahren als echte
Staatsweisheit. Ein einziger Regent des Jahrhunderts (Friedrich II.)
huldigte schon als Jüngling der neuen Lehre vom Fortschrciten, von
schneller Entwicklung, von Aufklärung, als der Morgenröthe eines
Tages ganz veränderter Sitten. Er stellte sich an die Spitze der in
Frankreich der Regierung und der Geistlichkeit furchtbaren Opposition
und ward von der alten Partei als Antichrist gehaßt, von der neuen
als Messias begrüßt. Sein Ruhm und seine Popularität beweisen hin¬
reichend, daß es unmöglich ward, das System des Mittelalters äußer¬
lich aufrecht zu erhalten, sobald der Geist desselben entwichen war,
daß daher die Regierungen Europa's nur der Nothwendigkeit folgten,
wenn sic Friedrich zum Muster nahmen. Frankreich allein konnte und
wollte lange seinem bisherigen System nicht untreu werden und ent¬
schloß sich erst dazu, als es zu spät war. Gerade in dieser Periode
ward Paris, was einst Italien gewesen war, Schule von ganz Europa,
der Hof in Versailles verlor seine Bedeutung und die Cirkel der
Hauptstadt und mit ihnen die Prediger der neuen Weisheit wurden
Lehrer aller höheren Bildung in Europa.
In der dritten Periode siegte überall die neue Lehre vom
Fortschreiten mit der Zeit, von der Verbesserung des Zustandes aller
Klassen, auch der Gefangenen und der Verbrecher, und selbst in Deutsch¬
land, wo das Regiment des Mittelalters durch Gemüthlichkeit des
Volkes, durch die Form des Staates, durch die protestantische Ortho¬
doxie und die katholische Hierarchie aufrecht erhalten ward, stürzte das
Alte zusammen, weil sich eine ganz neue Literatur des Lebens be¬
mächtigte und die ganze Denkart verändert war. In dieser Periode,
welche bis ans die ersten Vorposten der französischen Revolution reicht,
zeigen sich mitten im Frieden, während die Völker des Wohlstandes
und der Genüsse der. Ruhe sich freuten, überall Spuren der Auf¬
lösung, der Trennung, des innern Kampfes, überall Reibung zwischen
Wollen und Nichtwollen, Action und Neaction, bis endlich in vielen
Staaten das neue Princip obsiegt. Es wird aus dem christlich-ritter¬
lichen Staate des Mittelalters ein ganz neuer, der dem Anscheine nach
die Träume der Philosophen in Wirklichkeit verwandelt und die neue
Generation dem Einstusse der Römer und Griechen wie dem des
Mittelalters entzieht. Die Feudalität und Hierarchie und mit ihnen
alles in der Ueberlieferung und in der Gewohnheit Begründete sollen