616
in dm südlichen Theil seines Reichs flüchten; allein seine heldenmüthige
Gemahlin, Marie von Anjou, und ihre geistreiche Freundin, Agnes
Corel, suchten seinen Muth zu beleben und erinnerten ihn, der Mensch
dürfe nie die Hoffnung aufgeben, da jeder Tag Rettung bringen könne.
Ein einfaches Landmädchen sollte den König retten. In dem Dorfe
Domremi in Lothringen lebte ein Landmann Thibaut (Tibo, Theobald)
d'Arc. Dieser hatte unter mehreren Kindern eine Tochter, Johanna,
stark und kräftig an Wuchs und schwärmerischen Sinnes. Ueberall hin
drang das Gerücht von den reißenden Fortschritten der Engländer und
der mißlichen Lage des Königs. Auch Johanna hörte die Sache, versank
häufig in tiefes Nachdenken und war immer sehr begierig, Neuigkeiten
vom Kriegsschauplätze zu vernehmen. Was sie am Tage so lebhaft
beschäftigte, erschien ihr im Traume, ihre Einbildungskraft wurde durch
allerlei Erscheinungen, wie die der Maria, gereizt, und endlich glaubte
sie sich durch höhere Eingebung dazu berufen, ihr Vaterland und den
König zu retten. Sie begab sich daher zu einem Ritter, der in dem
nahen Städtchen sich befand, eröffnete ihm ihren Entschluß und bat ihn,
sie zum Könige zu führen. Anfangs wies er sie ab, indem er denken
mochte, ihre Worte seyen Aeußerungen einer überspannten Phantasie.
Als sie aber in andere Ritter drang, so erfüllten sie ibren Willen und
brachten sie zu Carl in männlicher, ritterlicher Kleidung. In des
Königs Nähe geführt, trat sie, die bisher die Heerden geweidet und
die Spindel gedreht, furchtlos auf, und als er sich unter die andern
Ritter mischte, fand sie ihn glücklich heraus, begrüßte ihn, entdeckte
ihm ihre Träume und Ahnungen und versprach ihm, wenn er sich ihr
anvertraue, wolle sie Orleans entsetzen und ihn zu Rheims krönen
lassen. Sie erzählte ihm ein Geheimniß, das nur er allein wußte,
verlangte ein Schwerdt, das, Allen unbekannt, mit fünf Kreuzen
bezeichnet, in einer gewissen Kirche liege und auch dort gefunden wurde,
wie sie denn auch behauptete, ein Unbekannter, mit dem sie sprechen
wolle, werde ihr von ihren Erscheinungen durch einen äußeren Glanz
entdeckt. Der König ließ sie durch Gelehrte genau prüfen und ihre
Antworten waren einfach, bestimmt und verständig. In jedem Falle
darf man annehmen, daß sie zu der Klasse der Somnambüls oder
Hellseherinnen gehört habe. Sie erhielt eine glänzende Rüstung, ein
schönes Pferd, das sie kräftig regierte, und eine weiße Fahne, mit
heiligen Bildern und Namen bezeichnet. Neuer Muth begeisterte die
Krieger, als sie die begeisterte Heldin sahen, die auch sie anfeuerte.
Sie selbst sollte nicht das Schwerdt führen, äußerte sie, sondern nur
die Krieger anfeuern und ihren Muth erhöhen. Ihre erste Unternehmung