Object: [Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband])

42. Bilder aus Tibet. 209 
und Tod. Sie dehnten sich aus und verdichteten sich. Wir stellten leere 
Zisternen auf und breiteten die Zeltleinwand auf den Boden aus. Dann 
warteten wir und warteten, aber die Wolken zogen langsam nach Süden und 
brachten uns keinen Tropfen. — Jolltschi verhöhnte meinen Kompaß: er be¬ 
trüge uns, und wir gingen im Kreise. Es sei ganz einerlei, wie lange Tage¬ 
märsche wir machten. 
Am 28. April (1895) erwachten wir durch einen außerordentlich heftigen 
Sturmwind aus Nordosten, der den Sand in undurchdringlichen Wolken um 
das Lager jagte. Graugelbc Sandhosen stürmten in wilder Flucht die Dünen 
hinauf, um machtlos auf der Leeseite hinunterzustürzen, wobei sie einander 
in rasendem Tanze folgten. Warf man Papierfetzen in die Luft, so wurden 
auch diese in den Windschatten niedergedrückt und konnten nicht von der Stelle 
kommen. Heute wäre es unmöglich gewesen, die Sonne zur Wegweiserin zu 
nehmen; nicht eine helle Stelle am Firmament verriet ihren Platz. Es galt, 
dicht beisammen zu bleiben. Kamen die anderen außer Sicht, so konnte man 
weder durch Rufe noch Flintenschüsse den Sturm übertönen; man wäre 
rettungslos verloren gewesen. Man sah nur das nächste Kamel, die übrigen 
verschwanden in einem undurchdringlichen Schleier. Nur ein eigentümlich 
pfeifender, sausender Ton ließ sich hören, wenn die Milliarden von Sand¬ 
körnern vorübereilten. Mitten am Tage wurde es oft stockfinster; sonst 
herrschte um uns eine rotgelbe bis graue, unsichere Beleuchtung. 
Eines der jüngeren Kamele siechte während des Tages dahin. Man 
sieht sofort, wenn es mit diesen Tieren zu Ende geht. Sie marschieren 
stolpernd, mit zitternden Beinen; die Augen haben einen matten, gläsernen 
Glanz, die Unterlippe hängt herab, und die Nüstern blähen sich auf. Die 
anderen Kamele wurden wieder mit einem Packsattel gefüttert, aber sie 
wollten nicht fressen, die Kehle war ihnen ausgetrocknet. — Islam Bai kam 
betrübt zu mir und teilte mir mit, daß er die eiserne Kanne leer gefunden 
und daß sie Jolltschi im Verdacht hätten, da dieser in der Nacht umher¬ 
gekrochen sei und gesucht habe. Es ließ sich jedoch nicht beweisen, daß er der 
Schuldige war. Wir hatten noch zwei Glas Wasser in der anderen eisernen 
Kanne. Während nun die Männer mit dem Beladen der Kamele beschäftigt 
waren, wurde Jolltschi von Islam Bai überrascht, wie er, mit dem Rücken 
nach den Kameraden gekehrt, die eiserne Kanne zum Trinken angesetzt hatte. 
Kochend vor Wut stürmten Islam und Kasim auf ihn los, schlugen ihn zu 
Boden, stießen ihn mit den Füßen und würden ihn umgebracht haben, wenn 
ich ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre. Die Hälfte des Wassers, y0 Liter, 
war noch übrig. 
Falk, Künoldt, Ltppell, Lesebuch für höhere Mädchenschulen. VI. Teil. 14 
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