Full text: Deutsches Lesebuch für ein- und zweiklassige Schulen

Fürsten aber drängten sich immer mehr in seine Nähe unb wurden 
ihm von Tag zu Tag gehässiger. Endlich beschloß Gero, all diesem 
Treiben ein Ende zu machen. 
2. Er lud dreißig Wendenfürsten zu einer Ratsversammlung und 
bewirtete sie fürstlich. Das üppige Mahl und der köstliche Wein 
mundete ihnen, und bald wirkten die starken Getränke auf ihre Sinne. 
Diesen Zeitpunkt hatte Gero herbeigesehnt. Plötzlich entspann sich 
ein Streit, und die Schwerter von Geros Freunden blitzten über 
den Köpfen der Wenden. Unfähig, sich zu verteidigen, sanken sie, 
von wuchtigen Schwerthieben getroffen, röchelnd zu Boden und färbten 
den Saal mit ihrem Blute. Nur ein Fürst entrann dem fürchter¬ 
lichen Gemetzel und brachte die Trauerkunde heim in die Wohnungen 
der Witwen und Waisen. Eine weite Gruft aber nahm die Leiber der 
Erschlagenen auf. 
3. Alljährlich am Tage des Blutbades öffnet sich um Mitter¬ 
nacht das große, breite Grab, und bleichen Angesichtes und hohlen 
Auges steigen die Fürsten hervor. Blutige Schwerter blitzen im 
Mondenschein, und dumpfes Getön wie: „Wehe!" und „Rache!" tönt 
durch die Lust, bis der Schall der Klosterglocken im kühlen Morgen- 
hauche verweht. Dann kehren auch die schaurigen Gestalten in die kühle 
Gruft zurück. An demselben Tage soll es um Mitternacht auf dem 
Chore der alten Kirche in Gernrode nicht geheuer sein, und manches 
Sonntagskind will den greisen Wendenbändiger geschaut haben, wie 
er dem Grabe entstiegen und nach seiner Stammburg gewandelt sei. 
Gotthold Klee. 
208. Dualen der Kreuzfahrer vor Jerusalem. 
1. Am fünften Tage der Umlagerung Jerusalems wagten die 
Pilger einen allgemeinen Sturm und eroberten nach langem und 
hartnäckigem Kampfe die äußere Mauer. Als sich aber die Belager¬ 
ten nunmehr hinter die höhere, innere Mauer zurückgezogen, blieben 
alle Angriffe vergeblich, und die, welche zu kühn auf Leitern Hinan¬ 
stiegen, wurden in die Tiefe hinabgestürzt. Man sah ein, daß die 
Stadt ohne Belagerungswerkzeuge nicht zu erobern sei; aber große 
Sorge entstand, woher man das Holz zu diesen Werkzeugen nehmen 
sollte; denn weit und breit um Jerusalem zeigten sich durchaus keine 
tauglichen Bäume. Da führte endlich ein syrischer, der Gegend kun¬ 
diger Christ die Franken gen Neapolis, wo sie in einem Tale, wenige 
Meilen von Jerusalem, Stämme fanden, zwar nicht so hoch und 
stark, als sie gewünscht wurden, aber doch besser, als sie erwartet
	        
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