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VI. Geschichtlicher Überblick der 
deutschen Verskunst. 
1. Der Versbau der deutschen Dichtung 
weist von jeher als Grundgesetz die Betonung 
auf. Die ältesten Denkmale deutscher Poesie 
zeigen eine stichische Gliederung. Der Vers, 
die sogenannte Langzeile, zerfällt durch 
eine ständige Diärese in zwei Halbzeilen 
mit je zwei Hebungen; als ein einheitliches 
Ganze erscheinen die beiden Halbzeilen durch 
die Alliteration'). 
Jeder Hebung können eine oder mehrere 
Senkungen vorangehen oder folgen; doch 
dürfen zwei Hebungen auch unmittelbar 
nebeneinander treten. 
2. Im 9. Jahrhundert trat an die Stelle 
der früheren Halbzeile mit zwei Hebungen 
ein Vers mit vier H.bringen, von denen 
die erste und die dritte den Hauptton trugen; 
je vier Verse bildeten eine Strophe. An 
die Stelle der Alliteration trat der Endreim. 
Dieser war anfangs nur einsilbig, also 
stumpf, indem er nicht an die Wurzelsilben 
gebunden war, sondern auch auf betonte 
Bildungssilben fallen konnte. 
3. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts 
gewinnt der Versbau eine bestimmtere Re¬ 
gelung und weist vollendetere Formen auf. 
Man gewöhnte sich im Wechsel zwischen 
Hebung und Senkung an festere Regeln, 
indem man eurerseits die Zabl der Senkungen 
zwischen zwei Hebungen beschränkte, ander¬ 
seits aber auch die Senkung nicht mehr 
völlig fehlen ließ. Ganz regelmäßiger Wechsel 
zwischen Hebung und Senkung war selten. 
Den Schluß des Verses bildet gewöhnlich 
eine Hebung, aber nach und nach dringen 
Reime ein, die mit einer Senkung schließen, 
jedoch zunächst noch in der Aussprache von 
stumpfen Reimen sich nicht unterscheiden. 
Mit der Abschwächung der Endsilben zog 
sich der Reim allmählich in die Wurzeln 
der Wörter zurück, so daß nunmehr auch 
der Unterschied zwischen stumpfen und 
klingenden Reimen hervortrat. 
Die kurzen Reimpaare mit vier Hebungen, 
aber ohne strophische Gliederung, wurden 
die Form der erzählenden Dichtung. Nur 
das Volksepos bildete eine Strophe von 
vier Langzeilen aus. Kunstvollere Strophen 
aus zwei gleichen Abschnitten und einem 
ungleichen Schlüsse finden sich in der 
lyrischen Dichtung. 
4. Mit dem Verfall der mittelalterlichen 
Poesie beginnt seit dem 14. Jahrhundert 
auch der Verfall der deutschen Verskunst. 
DieUnterscheidung zwischen stark und schwach 
betonten Silben verlor sich immer mehr; 
man unterschied schließlich n>cht einmal 
mehr zwischen Hebung und Senkung, und 
an die Stelle der Betonung trat die Silben¬ 
zählung. Nur das Volkslied bewegte sich 
in den älteren freieren Formen; bestimmend 
blieben die Hebungen, die Senkungen blieben 
frei. Diese Erscheinung sindet sich auch noch 
in einzelnen Kirchenliedern aus dem Anfang 
des 16. Jahrhunderts. 
5. Der Formlosigkeit machte zu Beginn 
des 17. Jahrhunderts der Dichter M. Opitz 
ein Ende, indem er in seinem Buch „Von 
der Deutschen Poeterey" (1624) den Grund¬ 
satz aufstellte, daß im deutschen Versbau 
der regelmäßige Wechsel von Hebung und 
Senkung durchzuführen sei. Indem er so 
einerseits zu dem alten Grundsatz deutschen 
Versbaues zurückkehrte, wies er anderseits 
den Weg zur Nachahmung der antiken 
Metra, wobei er sich aber noch auf den 
Jambus und den Trochäus beschränkte. 
An Stelle der überlieferten Versformen 
erhielt durch Opitz der Alexandriner die 
Vorherrschaft, die er bis in die Mitte 
des 18. Jahrhunderts behauptete. Damals 
veranlaßte Klopstock durch strenge Nach¬ 
ahmung des Hexameters in den drei Ge¬ 
sängen des „Messias" und durch Nach¬ 
ahmung horazischer Maße die Ausnahme 
antiker Metra in die deutsche Dichtung. 
Doch kehrten die Dichter, auch bei Anwendung 
antiker Maße, zur freieren Behandlung der 
Senkungen zurück und wechselten, nament¬ 
lich in der Balladen-, teilweise auch in der 
lyrischen Dichtung, gern zwischen zwei- und 
dreisilbigen Füßen; Goethe brachte auch die 
kurzen Reimpaare wieder zu Ehren. Im 
Drama übernahm seit Lessings „Nathan" 
der englische Blankvers die Stelle des 
Alexandriners. Schon damals fanden nach 
und nach die Versmaße der romanischen 
Völker Eingang in der deutschen Dichtung; 
die Romantiker dehnten die Nachahmung 
fremder Versmaße auch auf deu Orient 
aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr¬ 
hunderts wurde aber die Nachahmung 
fremder Maße mehr und mehr wieder 
verlassen und. wurden einfachere Formen 
vorgezogen. 
') Die erste Hebung der zweiten Halbzeile und eine oder beide Hebungen der 
ersten Halbzeilc lauten mit einem Vokale oder mit demselben Konsonanten an.
	        
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