Full text: Deutsches Lesebuch für Handelsschulen und verwandte Anstalten

51. Berlin, die deutsche Kaiserstadt. 167 
Beinahe hundert Jahre lang, vom Aussterben der kraftvollen 
Anhaltiner an gerechnet (1319), hatte Berlin kaum einen anderen 
verrn als Bürgermeister und Rat. Unsicherheit herrschte unter den 
Schattenfürsten aus dem bayrischen und luxemburgischen Hause ũberall 
im Reich; aber nirgends war sie größer als in der Mark, deren armer 
und roher Adel ganz vom Straßenraub lebte. Auch die märkischen 
Städte schlossen sich zu Schutz und Trutz zusammen, und Berlin ward 
das Haupt des märkischen Städtebundes. Es bildete sich hieraus und 
erstarkte der Bürgergeist, ein stolzes Selbstgefühl, das Gewalt gegen 
Gewalt setzte. Zu dem Münzrecht und der Gerichtsbarkeit erwarben 
diese trotjzigen Bürger gegen Ende des 14. Jahrhunderts den Königs⸗ 
bann und stellten, des zum Zeichen, den steinernen Roland mit dem 
nacktten Schwerte auf dem alten Markt, nicht weit von der Nilolaikirche, 
auf. Berlin war tatsächlich eine Stadtrepublik; da kamen die Hohen⸗ 
zollern in die Mark. Gleich der zweite dieser Kurfürsten, Friedrich 
der Eiserne, entwand ihnen das Schwert, stürzte den Roland in die 
Spree und legte dem Bär, dem Wappentier, ein Band um den Hals, 
baute eine Zwingburg zu Cölln an der Spree und machte dies zur 
Hauptstadt der Mark Brandenburg — Cölln an der Spree, nicht 
Berlin. Die Kurfürsten hielten auf diesen Unterschied, und lange 
noch bis auf Friedrich Wilhelm J. setzten Preußens Herrscher unter 
ihre Erlasse: „Gegeben in unserer Residenz zu Cölln an der Spree.“ 
Die beiden Gemeinwesen waren wieder getrennt; aber das eine 
Gemeinwesen erhielt seit 1448 oder 1451 den Residenzcharalter. 
Nun folgen zwei Jahrhunderte, in welchen die Hohenzollern ihre 
gesegnete Arbeit tun in dem verwilderten Lande. Aber dieser Zeit⸗ 
raum schließt auch die Periode des Dreißigjährigen Krieges in sich, der 
die traurigsten Spuren der Verwüstung auch in Brandenburg und 
Berlin hinterließ. Als der Große Kurfürst die Regierung übernahm 
(1640), war die Stadt nicht größer als zu der Zeit, wo sie ihre 
Ringmauer erhalten hatte. Am Ende des 16. Jahrhunderts zählten 
Berlin und Coun 12000 Einwohner; 1644 waren noch 6500 übrig, 
und von 1236 Häusern standen 358 leer. Die meisten waren von Holz, 
nicht wenige waren Hütten, mit Stroh gedeckt und Schornsteinen aus 
Lehm. Der Schloßplatz war ein öder Sandplatz und der Lustgarten 
ein verwilderter Sumpf. Auf den öffentlichen Plätzen spannte das 
Gewerk der Weber seine Zeuge aus, und auf den Straßen gingen die 
Schweine. Doch wie hat der Kurfürst seine 48jährige Regierung aus⸗ 
genutzt! Am Ende seiner Regierung hinterläßt er seinem Nachfolger 
die Stadt dreimal so groß als zu Anfang derselben mit einer Be— 
völkerung von 20000 Einwohnern. Der Friedrichswerder war zu 
Berlin und Cölln als dritter Stadtteil hinzugekommen. Nicht lange,
	        
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