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dort aufschlägt. Im Winter zieht er sich in das Innere der
Wälder, um dort Schutz vor den rauhen Winden und Brennholz
zu finden; auch ist dort für die Renntiere mehr Moos und für die
Menschen manches jagdbare Wild. Sobald das Laub von den
Bäumen fällt, geht der Zug fort. Das Zelt wird abgebrochen
und auf den Rücken eines Renntieres gepackt. Ein Korb aus
Baumrinde und Zweigen empfängt die wenigen Hausgeräte samt
den Käsen und übrigen Eßwaren; dieser Korb hängt an der einen
Seite des Tieres, an der anderen schaukelt die Wiege mit dem
Kinde. Diese Wiege ist aus Birkenholz in der Form eines Schlit—
tens, mit Renntiermoos gepolstert und hat ein Renntierfell als
Decke. Sind zwei kleine Kinder da, so werden sie auf jede Seite
des Tieres verteilt, gerade so wie die Körbe. Die Familie selbst
geht zu Fuß; ein Teil derselben mit dem Hausvater zieht an der
Spitze und giebt acht auf die Lasttiere. Dann folgt die Herde.
Die Nachhut wird von den übrigen Genossen und den Hunden
gebildet.
Das Winterzelt wird wieder in derselben Weise wie das
Sommerzelt aufgeschlagen, die Herde weidet nach wie vor im
Freien, und die Hirten müssen den Stürmen und Schneewehen
Trotz bieten, wie die Beduinen mit ihrem Samum und Chamsin
kämpfen. Die Winterkleidung des Menschen besteht nun ganz aus
der Haut seines treuen Lebensgefährten, und man kann sagen, daß
der Mensch ganz in die Haut des von ihm geschlachteten Renn—
tieres hineinschlüpft. Die große Haut wird zum Pelz, die Ga—
maschen und Handschuhe werden von dem Teile des Felles gemacht,
das an den Schenkeln des Tieres gesessen, die Schuhe von der
Haut des Kopfes verfertigt. Die Haare sind nach außen gekehrt,
und wegen der besonderen Festigkeit und Dichtigkeit ihres Gewebes
ist es unmöglich, daß die Kälte durchdringt. Um die innere Wärme
des Körpers zu unterhalten und den freien Umlauf des Blutes
nicht zu hemmen, ist, jeder Teil weit und bequem gemacht; ins—
besondere sind die Ärmel des Pelzes so weit, daß die Arme mit
Leichtigkeit ausgezogen und wieder eingesteckt werden können, ohne
daß man nötig hat, den Pelz auszuziehen. Wenn der Lappe ge—
nötigt ist auf dem Schnee zu schlafen, und ihm, ein Arm vor Frost
erstarrt, so kann er denselben leicht aus dem Armel ziehen und am
Leibe wieder erwärmen.
Das Renntier hat einen wunderlichen Instinkt sich inmitten
des Schneegestöbers wieder zurechtzufinden; sein Herr weiß zwar auch
nach dem Laufe des Gebirges und den Sternen am Himmel Ort
und Richtung zu bestimmen, aber wenn Nebel und Schnee alle Aus—
sicht verbannen, bleibt das kluge Tier seine einzige Rettung. So
wird der Beduine oftmals durch das Kamel gerettet, das, wenn alles
am Verschmachten ist und nirgends eine labende Quelle sich zeigt,
in der größten Entfernung das kostbare Wasser merkt und dann un—
aufhaltsam dem Rettungsorte zueilt.
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