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fand hier die jerusalemischen Christen versammelt und gab ihnen eine
Wache zum Schutze gegen etwaige Anfälle der Saracenen. Aber schon
retteten sich diese fliehend von den Straßen in die Häuser, vor allem
an zehntausend in den Tempel und dessen von Mauern eingeschlossenen
Bezirk. Auch dahin drangen die Christen. „Alle sind Frevler und
Heiligtumsschänder, kein einziger werde verschont!" so riesen das
Volk, die Fürsten und die Geistlichen; und man metzelte, bis das
Blut die Treppen des Tempels hinabfloß, bis der Dunst der Leich¬
name selbst die Sieger betäubte und forttrieb. Doch bemächtigten sie
sich vorher mit gieriger Hast der großen Teinpelschätze, welche einen
dauernden Reichtum hätten begründen können, wenn gewaltsamen
Erwerbern die Geschicklichkeit des Erhaltens nicht allenial, zur Straie
ihrer Frevel versagt wäre. Von dem Tempel eilte man zur Syna¬
goge, wohin sich die Juden gerettet hatten; sie wurden verbrannt.
Aufgehäuft lagen jetzt die Leichen selbst in den entlegensten Straßen;
schrecklich war das Geschrei der Verwundeten, furchtbar der Anblick
der einzelnen, zerstreut umhergeworsenen menschlichen Glieder; dennoch
kehrte höhere Besinnung noch immer nicht zurück. Es war schon
früher, zur Mehrung der Grausamkeit und des Eigennutzes, der
Grundsatz angenommen und vor der Eroberung Jerusalems nochmals
ausdrücklich bestätigt worden, daß jeder eigentümlich behalten sollte,
was er in Besitz nähme. Deshalb teilten sich die Kreuzfahrer, nach
Auseinandersprengung der größeren Masse ihrer Feinde, in einzelne
kleinere Raubhorden. Kein Haus blieb unerbrochen; Greife und
Weiber, Hausgesinde und Kinder wurden nicht bloß getötet, sondern
mit wilder Grausamkeit verhöhnt lind gemartert. Man zwang einige
von den Türmen hinabzuspringen; man warf andere zu den Fenstern
hinaus, daß sie mit zerbrochenem Genick aus der Straße lagen; man
riß die Kinder von den Brüsten der Mütter und schleuderte sie gegen
die Wände oder Thürpfosten, daß das Gehirn umhelffpritzte; man ver¬
brannte mehrere an langsamem Feuer; man schnitt anderen mit
wilder Gier den Leib auf, um zu sehen, ob sie nicht Gold, oder andere
Kostbarkeiten, der Rettung wegen, verschluckt hätten. Von 40 000,
oder, wie morgenländische Geschichtschreiber melden, von 70 000 Sa¬
racenen blieben nicht so viele am Leben, als erforderlich waren, ihre
Glaubensgenosien zu beerdigen. Arme Christen mußten nachher bei
diesem Geschäfte Hülse leisten, und viele Leichname wurden verbrannt,
teils damit sich nicht bei längerer Zögerung ansteckende Krankheiten
erzeugen möchten, teils weil man hoffte, selbst in der Asche noch
Kostbarkeiten aufzufinden. Endlich war nichts mehr zu rauben und
zu plündern; da reinigten sich die Pilger vom Blute, entblößten Haupt
und Füße und zogen unter Lobgesängen zur Leidens- und Aui-
erstehungskirche. Feierlich wurden sie hier von den Geistlichen empfangen,
welche mit tiefer Rührung für die Lösung ans der Gewalt der Un¬
gläubigen dankten, keinen aber mehr erhoben, als Peter den Ein¬
siedler, weil dieser ihnen vor fünf Jahren Hülfe zugesichert und sein
Wort gehalten hatte. Alle Pilger weinten vor Freuden, konnten sich
nicht satt sehen an den heiligen Stätten, wollten jegliches berühreil